TradeCom Report 2022

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VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I. INFLATION . . . . . . . . . . . . . 1. Rückschlaggefährdetes Wirtschaftswachstum (25.11.2021) Inﬂationsexperiment Türkei (13.01.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. 3. Der IWF korrigiert nach unten (03.02.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die ökonomischen Konsequenzen des Ukraine-Krieges (03.03.2022) . . . . . . . . 5. Ökonomische Resilienz für Deutschland (24.03.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Damoklesschwert Stagﬂation II (07.04.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Ökonomenstreit über das Gasembargo (21.04.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Rezession in Sicht? (01.09.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Der starke Dollar als möglicher Bumerang (08.09.2022) . . . . . . . . . . . . . . . 10. Die Stagﬂation ist da (13.10.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Das Schlimmste kommt erst noch (20.10.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Das letzte Hurra (10.11.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. ZINSWENDE 1. Was die Zinswende der USA verändern wird (10.02.2022) . . . . . . . . . . . . . . 2. Kommt der digitale Dollar? (17.02.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Neuauﬂage der Euro-Krise? (30.06.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. EZB in der Kritik (15.09.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Japan folgt dem eigenen Kurs (03.11.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. 9 11 15 19 23 27 31 35 37 41 45 51 55 59 61 65 67 71 75 III. NEUE WELTORDNUNG 79 81 1. Risiken in der Lieferkette (09.12.2021) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2. Chinas Probleme mehren sich (20.01.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3. Keine Geschlechter-Gleichstellung in der EU (10.03.2022) . . . . . . . . . . . . . . 93 4. Die Klimawende reicht nicht mehr (17.03.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 5. Europa rüstet auf (31.03.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 6. Militärausgaben wie noch nie (28.04.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 7. Neue Verhältnisse auf der Welt (12.05.2022) 8. Ist die Globalisierung am Ende? (19.05.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 9. Stoßen wir an die Grenzen des Wachstums? (02.06.2022) . . . . . . . . . . . . . . 115 10. Bildung ist ein rares Gut (09.06.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 11. Der neue Kalte Krieg (23.06.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 12. Bei 10,4 Milliarden ist Schluss (14.07.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 13. Die Notwendigkeit des Multilateralismus (04.08.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . 133 14. Wasser – ein knappes Gut (11.08.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 15. Resilienz statt Efﬁzienz (25.08.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 16. Arbeitszeitmodell neu (29.09.2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 IV. QUELLENANGABEN 151

VORWORT WELT IM WANDEL INFLATION, ZINSWENDE & NEUE WELTORDNUNG Das Jahr 2022 wird durch multiple globale Krisen geprägt. Die immer noch spürbaren Auswir- kungen der Corona-Pandemie, Probleme bei den Lieferketten, der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine, die dadurch ausgelöste Energiekrise und die steigende Inﬂation haben massive Auswirkungen auf das globale Wirtschaftssystem. Aus den warnenden Schlagwörtern „Stagﬂati- on” und „Rezession” wurden nicht nur für die größten Volkswirtschaften weltweit Tatsachen. Die Geldpolitik reagiert seit Mitte des Jahres auf die hohe Inﬂation. Sowohl die Fed als auch die EZB hoben die Leitzinsen in mehreren Schritten signiﬁkant an. Dies führte nach Jahren der Nullzinspolitik zu einer globalen Zinswende. Die Effektivität dieser Maßnahmen in Verbindung mit ﬁskalpolitischen Impulsen ist derzeit noch nicht absehbar. Bedingt durch die neuen globalen Verhältnisse teilt sich die Welt nun in neue ökonomische Machtblöcke. Vielfach wird der Globalisierung Einhalt geboten, der Traum eines geeinten Europas scheint ausgeträumt. Der Ukrainekrieg markiert eine geopolitische und weltwirtschaft- liche Zeitenwende, die - verschärft durch die Auswirkungen der Klimakrise, die wachsende Weltbevölkerung, die militärische Aufrüstung und die zunehmende soziale Ungleichheit - zum Normalzustand und Ausgangssituation für kommenden Generationen wird. Die Herausforderung des „annus horribilis” 2022 und den darauffolgenden Jahren wird sein, die multilaterale Ordnung an die heutige Zeit der Krisen anzupassen. Multilateralismus und Globa- lisierung müssen im Hinblick auf Frieden und Sicherheit, Krisenbewältigung und nachhaltigem Wohlstand vorangetrieben werden. Ceterum censeo TradeCom Fonds esse emendum! Mag. Reinhard Wallmann Ivana Marina Mag. Margot Steinöcker (Geschäftsführer) (Geschäftsführerin) (Public Relations) Marktschellenberg, 10. November 2022 7

1. Rückschlaggefährdetes Wirtschaftswachstum (25.11.2021) Der Internationale Währungsfonds (IWF) veröffentlicht zweimal jährlich eine Wirtschaftspro- gnose. Diese repräsentiert die Analysen der IWF Ökonomen zu den globalen wirtschaftlichen Entwicklungen während des Jahres. Im Oktober erschienenen „World Economic Outlook“1 geht der IWF weiter von einem kräftigen Wachstum nach dem Einbruch im Krisenjahr 2020 aus. Die globale Wirtschaftsleistung soll 2021 zwar um 5,9% zunehmen, die Prognose von Juli wird damit aber um 0,1% abgesenkt. Für 2022 bleibt es bei der Einschätzung von einem Wachstum von 4,9%. Die Risiken für die wirtschaftlichen Perspektiven hätten sich aufgrund der Pandemie erhöht, die wirtschaftliche Erholung hat sich in den meisten reichen Ländern durch die Auswirkungen der Delta-Variante des Corona-Virus abgeschwächt. Der Aufschwung könnte also einen beträchtlichen Dämpfer erhalten. Insbesondere für die „fortgeschrittenen“ Volkswirtschaften USA, Japan und Deutschland bedeu- tet das eine Senkung der Wirtschaftsprognosen für das laufende Jahr. Für Deutschland senkte der IWF seine Prognose um 0,5%, das BIP soll demnach 2021 um insgesamt 3,1% wachsen. Die Wachstumsprognose für die USA senkte der IWF für dieses Jahr um 1% auf 6%, für 2022 hob er sie leicht auf 5,2% an. Verantwortlich gemacht werden dafür anhaltende Gesundheitsrisiken, Probleme in Lieferketten und die hohe Inﬂation. Einige Herabstufungen würden aber von teilweise besseren Wachstumsaussichten der Rohstoff- exporteure ausgeglichen. Diese proﬁtieren von den derzeit hohen Preisen. Die Aussichten für die Eurozone stiegen um 0,4% auf 5%. Grund dafür sei das starke erwartete Wachstum in Frankreich und Italien. 11

Quelle: URL: https://www.imf.org/-/media/Images/IMF/Publications/WEO/2021/October/English/weo- oct-21-eng/weo-oct-21-eng-v2.ashx#.YZyV4mcjYnk.link (23.11.2021) „Der weltweite Aufschwung hält an, aber die Dynamik hat sich abgeschwächt“, heißt es im World Economic Outlook. Nach 2022 wird sich das Wachstum des globalen Bruttoinlandsprodukts zufolge mittelfristig auf etwa 3,3% abschwächen. Quelle: URL: https://www.imf.org/-/media/Images/IMF/Publications/WEO/2021/October/English/weo- oct-21-eng/weo-oct-21-eng-v2.ashx#.YZyV4mcjYnk.link (23.11.2021) Vor allem für Entwicklungsländer jedoch verdunkelte sich der Ausblick, sagt Chefvolkswirtin Gita Gopinath.2 12

Was die Inﬂation betrifft, deuten die Aussichten für die Schwellen- und Entwicklungsländer auf eine Rückkehr der Inﬂation von etwa 4% bis Mitte 2022 hin. Allerdings gäbe es für beide Län- dergruppen „nach oben tendierende Risiken“.3 Anhaltende Angebotsunterbrechungen, Rohstoff- und Immobilienpreisschocks, längerfristige Ausgabenverpﬂichtungen und eine Entankerung der Inﬂationserwartungen könnten zu einer deutlich höheren Inﬂation führen als im Basisszenario vorhergesagt, so der Bericht. Die zuletzt stark gestiegene Inﬂationsrate soll sich nach Einschätzung des IWF erst Mitte nächsten Jahres wieder normalisieren. Für die Industrieländer wird in diesem Jahr eine Inﬂation von 2,8% erwartet, 2022 sollen es 2,3% sein. Bei der vorigen Prognose war der Währungsfonds noch von 2,4% beziehungsweise 2,1% ausgegangen. Grund für die Anhebung sind auch hier vorübergehende Faktoren wie der Mangel an bestimmten Produkten oder die hohen Energiepreise. Die Zentralbanken müssten sich bei ihrer Geldpolitik daher bis auf Weiteres auf „einem schmalen Grat bewegen“, so der IWF. Gopinath spricht von der Abwägung von der Gefahr der Inﬂation und ﬁnanzellen Risiken gegen eine Unterstützung der wirtschaftlichen Erholung. Erneut warnt der IWF in seinem aktuellen Bericht vor großen Unterschieden bei der Erholung durch die Konjunktur, die durch ungleiche Corona-Impffortschritte und Staatshilfen für Unterneh- men und Haushalte zustande kämen. Priorität müsse nun darin liegen, Corona-Mutationen zu verhindern und Impfstoff in alle Länder zu bringen. Im ersten Corona-Jahr 2020 war die Weltwirtschaft um insgesamt 3,1% geschrumpft. 13

2. Inﬂationsexperiment Türkei (13.01.2022) In den meisten Volkswirtschaften wird die Geldpolitik durch ein explizites Inﬂationsziel verankert, weil es sich sowohl für die entwickelten Länder als auch für die Schwellenmärkte als vorteilhaft erwiesen hat, sich Ziele für die Preisstabilität zu setzen. Die von u.a. der Europäischen Zentralbank verwendeten Strategien werden den einzelnen Phasen des Transmissionsmechanismus zugeordnet. Der Transmissionsmechanismus der Geldpolitik Quelle: Beeker, D. „Wirtschaftspolitik – kompakt und praxisorientiert“. Stuttgart 2011. S.40 Der Transmissionsmechanismus ist der Prozess, über den sich die geldpolitischen Entscheidun- gen auf die Wirtschaft auswirken. Geldpolitische Instrumente werden zwischen Zentralbank und Geschäftsbanken eingesetzt: Offenmarktgeschäfte, Fazilitäten und Mindestreservesatz. Der Leitzins wird von der Zentralbank festgesetzt, dabei folgt sie bei der Festsetzung der 15

Geldmarktsätze unterschiedlichen Zielen um Geldmenge und Konjunktur zu beeinﬂussen. Das Endziel sollte jedenfalls die Preisstabilität sein. John B. Taylor Zur Festlegung des Leitzinses durch die Zentralbank kann die nach dem US-Ökonomen John B. Taylor benannte Taylor-Regel angewandt werden. Die amerikanische Zentralbank strebt außer dem Ziel der Preisstabilität auch einen hohen Beschäftigungstand und das Ziel der moderaten langfristigen Zinsen an. Daher ﬂießt auch das Produktionspotential (das sich aufgrund langfristiger Zinsen ergebende Produktionsvolumen) in den Zielgeldsatz ein, der sogenannte Taylor-Zins. Die Taylor-Regel stellt einen empirischen Ansatz dar, der sich auf ökonomische Untersuchungen stützt. Grundsätzlich beziehen sich die Untersuchungen auf die G8-Staaten und deren Erfolg zur Erreichung ihrer geldpolitischen Ziele. Aus diesem Grund kann die Regel in angepasster Form auf viele andere Länder übertragen werden. Die Taylor-Regel soll eine Art Handlungsanleitung für Notenbanken sein.4 Die Taylor-Regel Quelle: URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Taylor-Regel (20.12.2021) Die Europäische Zentralbank hat seit Ausbruch der Finanzkrise 2008 ihren Leitzins bis auf 0% gesenkt und über diverse Wertpapierankaufprogramme Geld in bisher nie dagewesener Form in die Märkte gepumpt. Aufgrund der durch die Corona-Pandemie ausgelösten Krise hat die EZB weitere Maßnahmen wie das „Pandemic Emergency Purchase Programme“ (PEPP) getroffen, um Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, die Privaten und Unternehmen helfen sollen, die Krise zu überstehen. Auf die steigende Inﬂation im Euroraum reagiert die EZB in ihren Sitzungen zur geldpolitischen Strategie nun mit der leisen Ankündigung von Tapering5. Erwartet wird die Zinswende in der Eurozone allerdings erst 2023 oder 2024, vorausgesetzt, die Wirtschaft wird von der Omikron- 16

Variante des COVID-19-Virus nicht weiter in die Knie gezwungen. Die Bank of England hat nun im Dezember als erste der großen Zentralbanken der westlichen Welt ebenfalls den Leitzins um 0,15% erhöht und reagiert damit auf die hohe Inﬂationsrate. Die US-Notenbank Fed hat das Tapering bereits im November eingeleitet und will der Nullzins- politik langsam den Rücken kehren. Statt 120 Milliarden will man jetzt erst einmal „nur noch"105 Milliarden Dollar in den Markt pumpen. Ziel ist es, den Geldhahn nicht zu schnell zuzudrehen, um die Finanzmärkte und die Wirtschaft nicht zu überfordern. Irving Fisher Der amerikanische Ökonom Irving Fisher argumentierte im 20. Jahrhundert jedoch entgegen der wirtschaftlichen Orthodoxie, die nominalen Zinssätze anzuheben, wenn die Inﬂation den Zielwert der Geldpolitik überschreitet. Er empfahl, dass die Notenbanken ihre Zielwerte für die Nominalzinsen anheben sollten, wenn die Inﬂation zu niedrig sei. Es gebe schließlich eine positive Korrelation zwischen Nominalzinsen und Inﬂation. Diese als Fisher-Effekt genannte Beziehung lässt sich aus den Wirtschaftsdaten ablesen. Die Interpretation der modernen Makroökonomen besagt, dass die Kausalität von der Inﬂation zu den Nominalzinsen verläuft.6 Das erste Land, das Fishers Theorie ausprobiert und somit gegensätzlich zum Prinzip des Transmissionsmechanismus handelt, ist die Türkei. Die türkische Zentralbank auf Geheiß von Staatschef Erdogan fügt der Theorie Fishers jedoch eine wichtige Neuerung zu. Türkische Regierungsvertreter glauben, dass hohe Zinssätze Inﬂation verursachen. Daher behaupten sie, dass die Kausalität in die andere Richtung verläuft. Eine Zinssenkung, so die türkischen Behörden, dürfte die Inﬂation verringern. Schließlich sei, wie Fisher argumentierte, der Nominalzins die Summe des realen Zinssatzes und der künftigen Inﬂation. Bei konstantem Realzins sei daher die einzige langfristige Auswirkung einer Senkung der Nominalzinsen eine niedrige Inﬂation, weil alle Auswirkungen der Senkung des nominalen Zinssatzes auf die Realzinsen langfristig verschwinden werden.7 Erst Mitte Dezember 2021 senkte die türkische Zentralbank erneut den Leitzins von 15% auf 14%. Es ist dies die vierte Leitzinssenkung in Folge trotz der hohen Inﬂationsrate von mehr als 36% (der höchste Wert seit 19 Jahren). Inﬂationsziel der türkischen Zentralbank wären eigentlich 5%. Kurzfristig fehlt es aber an einer derartigen geldpolitischen Neutralität. Daher verringert der Rückgang der Nominalzinsen auch die Realzinsen. Dies schadet den Sparern im In- und Ausland, was für ein Land wie die Türkei, die zur Finanzierung ihres wirtschaftlichen Wachstums ständige Leistungsbilanzdeﬁzite fährt, ein großes Problem ist. Die türkische Zentralbank verliert rapide an Ansehen bei den Investoren. Präsident Erdogan hat binnen zweieinhalb Jahren drei Notenbankchefs entlassen und somit die Unabhängigkeit der Währungshüter in Frage gestellt. Seit Jahresbeginn hat die Lira bereits rund die Hälfte ihres Werts zum Dollar eingebüßt. Türkische Firmen scheinen größtenteils noch zu proﬁtieren. Sie leiten einerseits die Preisstei- gerungen an ihre Kunden in Form von Inﬂation weiter. Außerdem haben sie ihre Schulden abgebaut. Nach Angaben des nationalen Statistikamts Tüik sind die Schulden des Privatsektors im Oktober leicht gesunken.8 Jedoch sind türkische Unternehmen häuﬁg in Dollar oder Euro verschuldet. Mit der türkischen 17

Lira geht es zügig bergab. Die Währung ﬁel aktuell auf ein Rekordtief, im Gegenzug stieg der US-Dollar um 3,3% auf 16,1863 Lira. Quelle: URL: https://www.ﬁnanzen.at/devisen/us_dollar-tuerkische_lira-kurs (12.01.2022) Westlichen Ökonomen zufolge droht neben dem Lira-Kollaps auch eine ausgedehnte Pleitewelle. Angesichts derzeit negativer Realzinsen wird das neo-Fisher’sche Experiment das Inﬂations- problem der Türkei verschärfen, so Ökonomin Sebnem Kalemli-Özcan in ihrem Artikel „Turkey’s Risky Inﬂation Experiment“ vom 4. Jänner 2022.9 Ein Land, das zur Finanzierung eines starken Wachstums Ersparnisse aus dem In- und Ausland braucht, kann diesen Sparern keine negativen Renditen bieten. Um den Sparern im Inland entgegen zu kommen, hat die Regierung vor Kurzem eine neue Politik angekündigt: Falls der Kursverfall der Lira gegenüber den wichtigen Währungen die kurzfristigen Einlagezinsen der Banken übersteigt, will die Regierung den Inhabern von Lira-Einlagen die Differenz zahlen. Kalemli-Özcan beantwortet die offensichtliche Frage, warum die Regierung eine im Vergleich zu einer Straffung der Geldpolitik kostspieligere Alternative umsetzt, folgendermaßen: Das kurzfristige Wachstumsmodell der Türkei beruht auf Krediten. Dies erfordert, dass inländische Kreditnehmer zu niedrigen Zinsen Geld aufnehmen können. Der fatale Fehler des Modells liegt jedoch bei der Rolle der ausländischen Kapitalﬂüsse. Wenn ein Land externen Finanzierungsbedarf hat und sein Wachstum über ausländische Erspar- nisse ﬁnanziert, sind die Kapitalﬂüsse eine wichtigere Determinante der kurzfristigen Kreditzinsen als der Leitzins – ein als „Abkopplung der kurzfristigen Zinsen“ bekanntes Phänomen. Das liegt daran, dass die inländischen Banken zur eigenen Finanzierung auf die internationalen Finanz- märkte angewiesen sind. 18

3. Der IWF korrigiert nach unten (03.02.2022) Die globale Wirtschaft steht zu Beginn des neuen Jahres schlechter da als erwartet, berichtet der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem „World Economic Outlook Update“ vom 25. Jänner 2022. Der IWF veröffentlicht zweimal jährlich eine Wirtschaftsprognose. Diese repräsentiert die Analy- sen der IWF Ökonomen zu den globalen wirtschaftlichen Entwicklungen während des Jahres. Dazwischen werden sogenannte Updates veröffentlicht, in denen die Prognosen angepasst werden. Aufgrund der Verbreitung der neuen Covid-19-Variante Omikron traten in vielen Ländern erneut Reisebeschränkungen in Kraft. Steigende Energiepreise und Versorgungslücken führten besonders in den USA, aber auch in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern zu einer höheren und breiteren Inﬂation als angenommen. Die prekäre Situation des Immobiliensektors in China und der sich nur zögerlich erholende Privatkonsum resultieren in eingeschränkten Wachstumsaussichten. Quelle: URL: https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2022/01/25/world-economic-outlook- update-january-2022 (01.02.2022) Die globale Wirtschaft soll 2022 um 4,4% wachsen, das sind um 0,5% weniger als bei der vorherigen Prognose im Oktober angenommen. 19

Quelle: URL: https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2022/01/25/world-economic-outlook- update-january-2022 (01.02.2022) Für die USA, die weltgrößte Volkswirtschaft, hat der IWF seine Wachstumsprognose um 1,2% auf 4% gekürzt. Als Grund dafür nennt der Internationale Währungsfonds vor allem das Scheitern des „Build Back Better“- Plans10 im US-Kongress, der die Konjunktur angekurbelt hätte. Für China, die zweitgrößte Volkswirtschaft, wurde die Prognose um 0,8% auf 4,8% gesenkt. Als Grund dafür führt der IWF die Probleme des Immobiliensektors, die Auﬂagen bei örtlichen Coronalockdowns und eine geringere Kauﬂust der Verbraucher an.11 Die Prognose für das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Deutschland in diesem Jahr senkte der IWF auf 3,8%, um 0,8% weniger als noch im Oktober angenommen. Als Grund nann- te der IWF vor allem die anhaltenden Unterbrechungen globaler Lieferketten, die die deutsche Wirtschaft besonders hart treffen. 20

Quelle: URL: energy-price-gains/ (01.02.2022) https://blogs.imf.org/2022/01/28/global-inﬂation-pressures-broadened-on-food-and- Die Inﬂationsrate soll heuer weltweit deutlich höher sein als noch vor drei Monaten erwartet. Für die Industriestaaten geht der IWF von einer durchschnittlichen Inﬂationsrate von 3,9% aus, was eine Erhöhung von 1,6% im Vergleich zur Prognose im Oktober darstellt. In Entwicklungs- und Schwellenländern soll die Teuerungsrate im Jahr 2022 durchschnittlich 5,9% betragen, ein Plus von 1%. Für 2023 erwartet der IWF dank weniger Unterbrechungen globaler Lieferketten, stabilisierter Energiepreise und einer insgesamt strafferen Geldpolitik deutlich langsamer steigende Preise. In den Industriestaaten soll die Inﬂation dann nur noch 2,1% betragen, in den Schwellen- und Entwicklungsländern 4,7%. Die US-amerikanische Zentralbank Federal Reserve (Fed) hat die Wende weg von den Hilfs- programmen zur Eindämmung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise hin zu einer strafferen Geldpolitik bereits verkündet. Der Leitzins soll schon im März erstmals seit Beginn der Pandemie erhöht werden. Erwartet werden bis Jahresende bis zu zwei weitere Zinsschritte. 21

4. Die ökonomischen Konsequenzen des Ukraine-Krieges (03.03.2022) War die Weltwirtschaft gerade noch auf dem Weg der Erholung von den Folgen der Corona- Krise, so wird dieser nun vom russischen Einmarsch in der Ukraine gebremst. Russland als elftgrößte Volkswirtschaft der Welt hat ein geringeres Pro-Kopf Einkommen als Italien. Das russische Bruttoinlandsprodukt beläuft sich auf ein Zehntel des chinesischen BIP. Doch die internationale Ökonomie ist von dem autokratisch regierten Staat stark abhängig. „Europa und speziell Deutschland sind extrem abhängig vom russischen Gas. Und die weitere konjunkturelle Entwicklung ist entscheidend von den Gas- und Ölpreisen beeinﬂusst.“ so Klaus-Jürgen Gern, Experte für internationale Entwicklungen beim IfW Kiel.12 Quelle: auswirkungen-101.html (01.03.2022) URL: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/ukraine-krieg-konjunkturelle- Bereits vor dem Krieg waren die Energiepreise hoch. Seitdem sind sie jedoch noch einmal deutlich gestiegen. Das Barrel Öl ist seit dem 20.02. um rund 7% im Preis gestiegen, der Kubikmeter Gas verteuerte sich um 5%. Besonders hoch ist der Preisanstieg bei Strom. Bereits am Montag, 28.02., wurde die Megawattstunde an der Börse mit 224,4 Euro gehandelt, 50% mehr als vor Kriegsbeginn. Obwohl sich die anfänglichen Preissprünge in den vergangenen Tagen bereits wieder beruhigt haben, werden die Energiepreise auf Dauer davon abhängen, wie viel russisches Öl und Gas in den kommenden Monaten exportiert werden wird. 23

Das Extremszenario, der komplette Stopp der Gaslieferungen aus Russland, würde zur Verrin- gerung der Produktion in Europa führen, so der Experte vom IfW Kiel. Die Preissteigerungen würden die Inﬂation weiter anheizen, ein Ende der Preisspirale ist vorerst nicht in Sicht. Der konjunkturelle Anstieg, der sich nach dem Winter mit der Omikron-Welle abgezeichnet hatte, ist dadurch gefährdet. Doch nicht nur im Bereich Energie wird Europa die Auswirkungen des Krieges spüren. Weltweit liegt Russland auf Platz 3 der Anbauländer von Weizen und gilt gemeinsam mit der Ukraine als „Weizenkorb Europas“. Deutschland liegt auf Platz 10 und importiert kaum Weizen aus den Konﬂiktländern. Bei den Speiseölen gilt dies nicht. Deutschland bezog 18% aller Öle aus Pﬂanzensamen 2019 aus der Ukraine, Importe im Wert von 100 Millionen Euro. Die Weltmarktpreise für Sonnenblumenöl, für dessen weltweiten Export Russland und die Ukraine zu 80% verantwortlich zeichnen, sind bis jetzt nur leicht gestiegen, mittelfristig dürfte es jedoch nach oben gehen.13 Viele täglich genutzte Apps und Programme stammen aus Russland und der Ukraine und werden dort weiterentwickelt (WhatsApp, Paypal, Snapchat wurden dort erdacht). Tech-Riesen Büros und Entwicklungsabteilungen, darunter Google, sind in und um Kiew angesiedelt. 5.000 Tech-Firmen mit 200.000 Angestellten haben ihren Sitz in der Ukraine. Die weltweite Entwick- lung neuer Produkte wird durch den teilweisen oder kompletten Ausfall dieser Unternehmen zurückgeworfen werden. Als Absatzmarkt für Autos spielen Russland und die Ukraine für die deutschen Autobauer kaum eine Rolle. 2021 wurden 1,7% der deutschen Produktion dorthin exportiert. Doch die deutschen Hersteller und Zulieferer sind von Rohstoffen und Vorprodukten aus beiden Ländern abhängig. Die Preise für Aluminium haben nach Kriegseinbruch bereits Rekordhöhen erreicht. Bei Palladium ist Russland sogar Weltmarktführer. Eine Umstellung der Lieferketten kann zu Verzögerung der Herstellung und zu Preiserhöhungen führen. Den größten unmittelbaren Einﬂuss hatte der Ukraine-Krieg für alle Anleger. Der DAX verzeichnet einen Einbruch von rund 5% seit Kriegsbeginn, der MSCI World ﬁel auf den niedrigsten Stand seit fast einem Jahr. 24

Quelle: URL: https://www.ﬁnanzen.net/index/dax (03.03.2022) Selbst nach einer Erholung der internationalen Finanzmärkte könnte es durch dauerhaft hohe Energiepreise zu einer anhaltenden Inﬂation kommen und die Aktienmärkte langfristig geschä- digt werden. Als Folge der steigenden Inﬂation könnte es auch zu einem rascheren Eingreifen der Noten- banken kommen, als geplant. Die EZB plant eine Sitzung am 10. März und die Reaktion der Währungshüter auf die neuen Entwicklungen wird mit Spannung erwartet. Die Fed reagierte bereits und kündigte an, die aktuellen Entwicklungen in die kommenden Zinsentscheidungen einzubeziehen. Auch in den USA geht man von einer Erhöhung der Inﬂation und einem Schaden für das Wirtschaftswachstum aus. Abzuwarten bleibt die Reaktion Chinas, dessen Positionierung für die Entwicklung der Welt- wirtschaft nach Ansicht der Experten eine entscheidende Rolle spielen wird. Es gilt als unwahrscheinlich, dass sich China gemeinsam mit Russland den ökonomischen Konsequenzen Europas und der USA stellen wird. Weiters kämpft China mit seiner Null-Covid-Strategie bereits mit vielen weitreichenden wirtschaftlichen Problemen. Nach Meinung Henrik Müllers, Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus in Dortmund, sind Deutschland und Europa auf die aktuelle Situation nicht vorbereitet. Es fehle an gemein- samen Institutionen, kraftvollen Strukturen und gemeinsamen Streitkräften samt glaubwürdiger europäischer Abschreckung. Müller attestiert Deutschland ein gefährliches kollektives Aufmerksamkeitsdeﬁzitsyndrom. Seiner Meinung nach sind Politik und Öffentlichkeit zu oft abgelenkt und verfangen sich, von Thema zu Thema springend, in irrelevanten Diskussionen, anstatt sich mit den Grundfragen der Sicherheit, Stabilität und Fairness zu befassen. 25

Gemeint sind hier außenpolitische Verwerfungen, die die Welt seit mehr als 20 Jahren immer unberechenbarer machten. Dies betrifft nicht nur die deutsche Verteidigungsunfähigkeit und die russlandzentrierte Energieversorgung, sondern auch die Abhängigkeit der deutschen Wirt- schaft von China. Europas Krisen in den 2010er Jahren wären von Deutschland weitgehend übergangen worden. Die Europäer hätten die Anbindung vieler ﬁnanzschwacher europäischer Länder an China hingenommen, ebenso wie die Putin-Nähe von Regierungschefs wie Viktor Orban und Oppositionspolitikern wie Marine Le Pen. Die ﬂächendeckende Propagandabeschal- lung durch Russia Today wurde ebenso hingenommen wie die Regentschaft des Donald Trump.14 Auch der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Jason Furman sieht ein Problem in der europäischen Abhängigkeit von russischem Gas, das Deutschland mit dem Ausstieg aus der Kernenergie noch verschärft hat. Er meint jedoch, dass mit 100 USD pro Barrel der Ölpreis etwa ein Viertel unter dem inﬂationsbereinigten Preis der Jahre 2011 bis 2014 liegt und die Preise für Öltermingeschäfte niedriger als die Barpreise liegen, was bedeutet, dass der Anstieg nur vorübergehend ist. Die Zentralbanken dürften daher die Ereignisse in der Ukraine weitgehend ignorieren und die Straffung ihrer Geldpolitik nicht vorantreiben. Zudem sind die Aktienmärkte im letzten Jahr weiter gestiegen.15 Russland hatte sich auf die aktuelle Situation gut vorbereitet. Das Land erwirtschaftet einen enormen Leistungsbilanzüberschuss und hat Devisenreserven in Rekordhöhe von 630 Milliarden USD angehäuft. Dies reicht aus, um die Importe von fast zwei Jahren zu decken. Jedoch wurde dieses Geld durch die vom Westen verhängten Sanktionen gegen die russische Zentralbank eingefroren. Langfristig wird Russland, nach Meinung Furmans, als der größte wirtschaftliche Verlierer des Konﬂikts dastehen. Seit der Annexion der Krim durch den Kreml 2014 stagniert die Wirtschaft. Die Folgen der groß angelegten Invasion in die Ukraine werden im Laufe der Zeit gravierender werden, die Sanktionen werden ihren Tribut fordern, Russlands zunehmende Isolation und die Unsicherheit der Investoren werden Handel und Wirtschaftsbeziehungen schwächen. Nachdem zu erwarten ist, dass Europa seine Abhängigkeit von Russland bei fossilen Brennstoffen verringern wird, werden die längerfristigen wirtschaftlichen Folgen für den Rest der Welt weniger schwerwiegend sein als für Russland, so der Experte. Die zukünftigen Entwicklungen werden abhängig sein von den politischen Entscheidungen in dieser Krise, die wirtschaftlichen Folgen sind nur ein Teil der verheerenden Effekte eines länger andauernden Krieges. 26

5. Ökonomische Resilienz für Deutschland (24.03.2022) Die deutsche Wirtschaft erhält durch die Aufhebung vieler Pandemie-Restriktionen einen kräftigen Schub. Inmitten dieser Phase der Erholung führt der Krieg in der Ukraine zu hohen Rohstoffpreisen, neuen Lieferengpässen und schwindenden Absatzmöglichkeiten. Eine der starken Auftriebskräfte für die deutsche Wirtschaft ist die aufgestaute Kaufkraft der privaten Haushalte und die Auftragspolster der Industrie. Die Schockwellen aus dem Krieg in der Ukraine werden dadurch zwar abgefedert, der private Konsum wird in Deutschland jedoch durch die hohen Rohstoffpreise, die die Kaufkraft der verfügbaren Einkommen verringern, gedämpft. Die Erholung der deutschen Wirtschaft dürfte sich gemäß dem Kieler Konjunkturbericht für die „Deutsche Wirtschaft im Frühjahr 2022“16 zwar fortsetzen, allerdings deutlich langsamer als im Winter erwartet. Für das laufende Jahr wird nun mit einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts von 2,1% gerechnet (Prognose im Winter: 4%) und von 3,5% für das Jahr 2023 (Winterprognose 3,3%). Die Inﬂation im laufenden Jahr könnte mit 5,8% so hoch ausfallen wie noch nie im wieder- vereinigten Deutschland. Selbst wenn die Rohstoffpreise nicht weiter steigen sollten und die Lieferengpässe allmählich nachlassen würden, wird die Inﬂation im Jahr 2023 mit 3,4% noch so hoch bleiben, weil die jüngsten Erzeugerpreisanstiege erst nach und nach bei den Verbrauchern ankommen werden. Die öffentlichen Ausgaben werden steigen, die Haushaltsdeﬁzite länger auf erhöhtem Niveau verharren. 27

Quelle: Handelsblatt (18.03.2022) Deutschland hat seinen Wohlstand auf offene Märkte und eine multilaterale, regelbasierte Weltordnung gebaut. Bereits 2016 wurde diese Weltordnung mit dem Brexit-Referendum und der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten erschüttert. Der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine markiert nur den vorläuﬁgen Höhepunkt einer länger andauernden Entwicklung.17 Zahlreiche Experten warnen vor einer grundlegenden Veränderung der wirtschaftlichen und geo- politischen Ordnung durch Verschiebungen im Energiehandel, Veränderungen der Lieferketten, Zerfall von Zahlungsnetzwerken und Länder, die neu über ihre Währungsreserven nachdenken. Ifo-Chef Clemens Fuest18 sieht Deutschland als den Hauptleidtragenden. Im Jahr 2021 expor- tierte die Bundesrepublik Waren und Dienstleistungen im Wert von 1.376 Milliarden Euro – soviel wie nie zuvor, trotz pandemiegeschwächter Lieferketten. Grund dafür sind starke internationale Vernetzungen und Engagement auf ausländischen Märkten. Noch 2015 schloss die Bundesregierung unter Angela Merkel den Vertrag über die Ostseepipe- line Nord Stream 2 ab. Die politischen Rahmenbedingungen können sich jedoch schnell ändern, wie der Ukrainekrieg zeigt. Die Resilienz der deutschen Wirtschaft und damit das deutsche Geschäftsmodell stoßen nun an ihre Grenzen. Alle Branchen, die auf fossile Brennstoffe angewiesen sind – sei es als Treibstoff oder zur Energiegewinnung – sind zurzeit stark betroffen. Ein Beispiel ist Thyssen-Krupp, die am 16.03. eine Warnung veröffentlichten: Aufgrund der direkten und indirekten Auswirkungen infolge des Krieges in der Ukraine sind Beeinträchtigungen in der Geschäftsentwicklung zu erwarten. 29

Bereits infolge der russischen Besatzung der Halbinsel Krim und den darauffolgenden Sank- tionen halbierten sich die Exportmengen nach Russland für die deutsche Transportwirtschaft. Die Verschärfung der Lage darf als Warnsignal nicht unterschätzt werden. Nicht nur werden Transporte durch die hohen Energiepreise unattraktiv, die deutsche Wirtschaft ist auch sehr abhängig von billigen Transporten. Ein Ausfall von nur ein oder zwei Ländern kann in den Lieferketten Dominoeffekte auslösen. Größer noch als die Sorge vor einer Entkoppelung des russischen Marktes ist für viele deutsche Unternehmen, die Angst, auch die wirtschaftlichen Beziehungen zu China könnten sich ver- schlechtern. Viele Maschinenbauer sortierten bereits ihr Produktionsnetzwerk neu und proben damit neue Resilienz-Strategien. Der Autozulieferer Kirchhoff Automotive verlegt sich auf die Begrenzung des Umsatzanteils in China auf 10%. Achim Wambach, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), sieht die Frage der Abkopplung als Konsequenz der Lieferengpässe aus der Pandemie, aber auch aus Gründen der nationalen Sicherheit, als Diskussionsthema der nächsten Jahre. Die Antwort liegt nicht unbedingt in der Renationalisierung, sondern vielmehr in Diversiﬁzierung, also im Aufbau alternativer Lieferanten.19 Die Frage nach der Resilienz gegenüber Autokratien, insbesondere China, wird für die deutsche Wirtschaft demnach immer wichtiger. Dennoch besteht die Chance, dass es nicht zu einer Zwei- teilung der Wirtschaft kommt. Auf jeden Fall sollte Deutschland sein Geschäftsmodell auf sichere Beine stellen. 30

6. Damoklesschwert Stagﬂation II (07.04.2022) Während der Pandemie konnte die Wirtschaft auf Normalität in der Zeit danach hoffen. Im Jahr 2022 sollte es eigentlich so weit sein: die Europäische Union sollte sich in diesem Jahr von den wirtschaftlichen Problemen der Krise erholen und nach vorne blicken. Am 24. Februar jedoch überﬁel der russische Präsident Putin die Ukraine und brachte alle Prognosen zum Verstummen. Die Dauer des Konﬂikts ist völlig unklar, ebenso die volkswirt- schaftlichen und weltwirtschaftlichen Folgen. Die steigenden Energiepreise beﬂügeln nicht nur die Inﬂation, sondern schwächen auch die Konjunktur. Die Kombination von Inﬂation und stagnierender oder gar schrumpfender Wirtschaft, eben die Stagﬂation, schwebt als Damoklesschwert seit Wochen über den Märkten. Wie in unserem Newsletter vom 09.09.2021 (Damoklesschwert Stagﬂation) bereits erwähnt, trat das Phänomen Stagﬂation im Zuge der Ölkrise in den 1970er Jahren in fast allen westlichen Ländern auf. Damals sorgten stark steigende Ölpreise für stark steigende Staatsschulden, hohe Arbeitslosenzahlen, höhere Preise und geringes Wachstum. Quelle: URL: https://tagesgeld.info/lexikon/stagﬂation/ (05.04.2022) Experten sehen in den aktuellen Entwicklungen Ähnlichkeiten zu den Szenarien der 1970er Jah- re. Auch damals hatte sich das Wachstum aufgrund steigender Rohstoffpreise abgeschwächt, zwei Rezessionen waren die Folge. Diesmal scheint die Dynamik allerdings weniger stark und auch das Zinserhöhungspotential von damals noch nicht erreicht zu sein, so die meisten 31

Ökonomen. Die DZ Bank beleuchtet in einer Studie das „Stagﬂationsgespenst“ und schätzt das Risiko nicht so hoch ein, wie viele befürchten, dennoch steige es.20 Wegen des Krieges in der Ukraine ist Europa besonders gefährdet. In den USA lag die Inﬂati- onsrate noch höher - zuletzt bei fast 8% - dennoch ziehen die Preise auch in der Eurozone im März um 7,5% an. Inﬂationsraten USA und Eurozone Quelle: URL: https://tradingeconomics.com/euro-area/inﬂation-cpi (05.04.2022) BIP Wachstum Eurozone Quelle: URL: https://tradingeconomics.com/euro-area/gdp-growth (05.04.2022) Der Druck auf die westeuropäischen Staaten, russische Öl- und Gasimporte zu stoppen, nimmt 32

gerade angesichts der jüngst ans Licht gekommenen Massenmorde an ukrainischen Zivilisten, die von Russland dementiert werden, zu. Durch ein Embargo würden Deutschland, Österreich und andere westeuropäische Länder Wachstum verlieren. Durch die zunehmende Verknappung würden die Preise fossiler Brennstoffe weiter steigen. Dieses Szenario könnte eine Stagﬂation ergeben. Unternehmen mit einem historisch hohen Auftragsbestand und der Aussicht auf eine konjunktu- relle Stärkung im Jahr 2022 erleben nun einen mehrfachen Kostenschock. Neben Energiepreisen auf Höchstständen und Lieferschwierigkeiten innerhalb von Fristen, erweist sich bei der Suche nach alternativen Quellen auch das Lieferkettengesetz als Hemmnis. In der Ukraine liegen für die Produktion errichtete Kapazitäten brach, Logistiksysteme sind gestört (Eisenbahn, LKW) oder überlastet (Containerschiffe). Ein breiter Produktionseinbruch ist vorstellbar, der auch länger andauert als während der Pandemie.21 Auch die Beschäftigung könnte unter der Situation leiden. Wie schon in der Pandemie büßen private Haushalte an Einkommen ein. Dazu könnte eine Belastung durch Kaufkrafteffekte der Teuerungen kommen. Es droht zusätzlich zum Angebotsschock eine Krise der gesamtwirtschaft- lichen Nachfrage. Sollte es einen andauernden konjunkturellen Einbruch bis hin zur Rezession in diesem Jahr geben, könnte sich das zu einer dauerhaften Belastung der Wachstumsdynamik aller europäischen Industrieökonomien verschärfen, so eine Analyse von Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln. Hüther sieht die Finanzpolitik in diesem Krisenmanagement besonders in der Pﬂicht. Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Legarde, formulierte es Ende März bei einer Veranstaltung auf Zypern so: „Europa tritt jetzt in eine schwierige Phase ein. Kurzfristig werden wir mit einer höheren Inﬂation und einem langsameren Wachstum konfrontiert sein. Es besteht große Unsicherheit darüber, wie groß diese Auswirkungen sein werden und wie lange sie anhalten werden. Je länger der Krieg dauert, desto höher werden die Kosten voraussichtlich sein.“ Die EZB sieht vor, ihr Programm der quantitativen Lockerung aus der Pandemiezeit im dritten Quartal zu beenden und die erste Zinserhöhung im vierten Quartal des Jahres zu genehmigen. Das Anheben der Leitzinsen soll graduell erfolgen.22 Weiters sind für die EZB im Jahr 2022 drei Szenarien möglich: gewöhnlich (3,7% Wachstum), ungünstig (2,5% Wachstum) und schwerwiegend (2,3% Wachstum). Letzteres ist fast die Hälfte der Wachstumsrate von 4%, die die Europäische Kommission Anfang Februar veröffentlicht hat- te. Die Szenarien wurden Anfang März erstellt, die Zentralbank beabsichtigt, ihre Schätzungen im Juni zu revidieren. Die Befürchtungen mancher Experten, dass die Notenbanken bald unter Handlungsdruck kom- men und noch schneller restriktiver werden könnten, wird nicht von allen Ökonomen geteilt. Nicht zuletzt liegt dies an der andauernden Ungewissheit in Bezug auf die kommenden geo- und wirt- schaftspolitischen Veränderungen. Stagﬂation wäre eine Möglichkeit; etwas langsameres Wachs- tum als vor dem Kriegsausbruch und längerfristig ein Sinken der Inﬂation, eine andere. 33

7. Ökonomenstreit über das Gasembargo (21.04.2022) Es scheint kaum eine Alternative zu geben: Der Westen wird erneut harte Schritte gegen Russ- land setzen müssen. Nach dem gerade verhängten Kohleembargo ist ein Boykott russischer Öllieferungen nur eine logische Konsequenz. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine hat Europa 35.000 Millionen Euro für Energieimporte an Russland überwiesen und somit Putins Feldzug unterstützt. Europas größte Volkswirtschaft, Deutschland, ist stark von russischer Energie abhängig. Energieverbrauch Deutschland 202123 Im Gegensatz zu Erdgas, das in der Regel über Pipelines vom Anbieter selbst geliefert wird, gibt es für Kohle und Erdöl globale Märkte. Zudem hat Deutschland strategische Kohle- und Erdöl-Reserven. Die Herausforderung bleibt also das Gas. Im ECONtribute-Policy-Brief24 führender deutscher Wirtschaftswissenschaftler, wird die Frage erörtert, ob Deutschland kurzfristig Ersatz für Importe aus Russland ﬁnden kann. Die Autoren verwenden ein hochmodernes multisektorales Makromodell, um die Komplexität moderner Lie- ferketten zu berücksichtigen und bringen detaillierte Kenntnisse des deutschen Energiemarktes ein.25 Das Ergebnis der Studie zeigt, dass ein sofortiger Ausstieg aus dem russischen Gas Deutsch- land 0,5 bis 2,2% des BIP kosten würde. Dieser Wachstumsrückgang ist beträchtlich, nicht aber katastrophal. Die deutsche Wirtschaft büßte durch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie im Jahr 2020 4,6% des BIP ein. 35

Je nachdem wie gut die deutsche Wirtschaft in der Lage ist, Ressourcen auf andere Sektoren umzuverteilen und Ersatz für Gas zu ﬁnden, variiert auch der geschätzte Produktionsverlust. Die „Substitutionselastizität“ ist gemäß der Studie zwar sehr gering, aber nicht gleich Null. Haushalte und Unternehmen könnten russisches Gas kurzfristig durch andere Energieträger oder mit Gas aus den Niederlanden oder Norwegen ersetzen. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz wies die Analyse des Policy-Briefs zurück. Die verwendeten Modelle entsprächen nicht der Realität vor Ort. Der Bau einer neuen Pipeline würde zu lange dauern um die Produktionsverluste abzumildern und große Firmen wie Siemens Energy und BASF, mit denen die Regierung in ständigem Kontakt steht, würden ein Stopp der russischen Gasversorgung als ruinös einstufen. Besonders die Chemieindustrie, die jährlich mehr als 136 Terawattstunden Energie in Form von Gas verbraucht, würde es empﬁndlich treffen. Dasselbe gilt für die Metallbranche, die 22% des industriellen Verbrauchs in Deutschland aufweist.26 Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, schätzt, dass Deutschland noch mindestens zwei Jahre auf russisches Gas angewiesen ist. So lange mit Rettungsmilliarden und Kurzarbeit über die Runden zu kommen, sei eine Illusion. Die Prognosen (darunter Einschätzungen der Wirtschaftsforschungsinstitute) für die Folgen eines kompletten Energieboykotts reichen also von -0,5% bis -6% der Wirtschaftsleistung. Das eine wäre verkraftbar, das andere katastrophal. Es scheint, als müsste man sich bei der Entscheidungsﬁndung entweder auf die Seite der wirt- schaftswissenschaftlichen Modelle oder auf die der ökonomischen Realität schlagen. Tatsächlich entwickelte sich über die möglichen Folgen eines Energieboykotts ein Streit unter Ökonomen. Für die einen bilden die eilig zusammengestellten Makromodelle der Wissenschaft die komplexe Mikrorealität der Wirtschaft nur unzureichend ab. Die Auswirkungen eines Gasembargos für das eng verﬂochtene industrielle Netzwerk Deutsch- lands sind nur schwer kalkulierbar. Ein Beispiel wäre die komplexe Kunststoffproduktion, die ohne Chemieindustrie nicht produzieren könnte, jedoch wichtige Teile für die Windkraftindustrie liefert, die wiederum der wichtigste Baustein des grünen Umbau Deutschlands ist.27 Noch tiefer verﬂochten ist die Automobilbranche, an der Millionen Jobs hängen. Rund 23% der Wertschöpfung stammen aus der Industrie- und auch ein großer Teil der Dienst- leistungen hängt am verarbeitenden Gewerbe. Die Wirtschaftswissenschaft argumentiert damit, auch tiefere historische Erfahrungen in ihre Modelle einﬂießen lassen zu können. Dadurch lassen sich alle Möglichkeiten analysieren, wie sich eine Wirtschaft anpassen könnte. Im ECONtribute-Policy-Brief etwa werden die Erfahrungen mit dem Ölpreisschock von 1973 in das Modell eines möglichen Abbruchs der russischen Gasimporte einbezogen. Auch physi- kalische Faktoren werden durchaus berücksichtigt, indem sie die begrenzten Ressourcen und andere wirtschaftliche Zwänge einkalkulieren. Ein Gasboykott hätte also aus deutscher Sicht unabsehbare Folgen. Dennoch wird die Regierung nicht umhinkommen, unter dem wachsenden Druck bald eine Entscheidung zu treffen. 36

8. Rezession in Sicht? (01.09.2022) Inﬂation, Lieferengpässe und steigende Zinsen lassen viele ÖkonomInnen zu dem Schluss kommen, dass Deutschland in der zweiten Jahreshälfte 2022 in eine Rezession rutschen wird. „Es sieht düster aus.“ meint zum Beispiel Chefvolkswirt Thomas Gitzel von der liechtensteini- schen VP Bank. Seiner Ansicht nach beﬁndet sich die deutsche Wirtschaft bereits im laufenden dritten Quartal im Rückwärtsgang. Da für das Schlussquartal 2022 nicht mit einer Besserung zu rechnen ist und es auch für Anfang 2023 kaum Grund zur Zuversicht gibt, rechnet er mit einer Rezession als wirtschaftlichen Begleiter über einen längeren Zeitraum. Quelle: URL: https://tradingeconomics.com/germany/gdp-growth (30.08.2022) Auch die deutsche Wirtschaftswissenschaftlerin Veronika Grimm und der Ökonom Alexander Kriwoluzky vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung halten die Gefahr, dass Deutschland in der zweiten Jahreshälfte in eine anhaltende Rezession rutscht, für real.28 Der Krieg in der Ukraine und die Corona-Pandemie wirken bremsend auf die Wirtschaftsleistung Deutschlands. Berechnungen des Ifo-Instituts zufolge wird Deutschlands Wirtschaft am Ende des laufenden Jahres nur um 2% gewachsen sein.29 37

Quelle: URL: https://www.ifo.de/DocDL/sd-2022-06-Sonderausgabe-Juni-.pdf (30.08.2022) Seit den 1960er Jahren gab es in Deutschland mehrere Rezessionen. Beispiele dafür sind die erste Ölkrise in den Jahren 1974/1975, die zweite Ölkrise 1980 oder die Finanzkrise 2008/2009. Auch die Coronapandemie führte 2020 zu einer Rezession in Deutschland (siehe oben). Globale Rezession Finanzmarktkrise und Coronakrise Quelle: (30.08.2022) URL: https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Corona/krisenmonitor.html Natürlich betreffen die oben genannten internationalen Krisen auch die Weltwirtschaft. Der 38

Ukrainekrieg kann eine dauerhafte Belastung für die globale Konjunktur bedeuten. Gemäß Kriwoluzky bedrohen vor allem fünf Faktoren den wirtschaftlichen Aufschwung:30 1. Wackelige Prognosen: Das Kieler Institut für Weltwirtschaft geht derzeit noch von einem Wachstum des globalen BIP von 3% im laufenden Jahr aus. Die Risiken sind aber weiterhin hoch. Eine Ausweitung der geopolitischen Konﬂikte würde die Konjunktur weiter bremsen. Die Konjunktur in China kühlt bereits ab, in den USA wächst die Angst vor einem Abschwung ebenfalls. Europa trifft die aktuelle Krise aufgrund der großen Abhängigkeit von russischen Energielieferungen besonders hart. 2. Stagﬂationsgefahr: Die steigende Inﬂation, die zuerst durch die steigenden Energiepreise bedingt war, hat sich nun in der Breite verfestigt. In der Eurozone liegt die Inﬂationsrate bei 8,9% im Juli 2022, in den USA bei 8,5%. Die Prognosen gehen im Jahr 2023 noch immer von einer weltweiten Inﬂation von 6,7% aus. Steigende Inﬂationserwartungen und eine Lohn-Preis-Spirale könnten auf längere Zeit noch höhere Preissteigerungen mit sich bringen. Eine Ära der Stagﬂati- on aus hohen Inﬂations- und geringen Wachstumsraten ist möglich. 3. Belastung durch Zinswende: Die Notenbanken haben bereits auf die hohen Inﬂationsraten reagiert. Die Europäische Zentralbank erhöhte im Juli zum ersten Mal seit 10 Jahren den Leitzins. Mit den steigenden Zinsen wächst auch die Angst vor einer neuen Euro-Krise. Für Griechenland beispielsweise stiegen die Zinsen zur Tilgung der Staatsschulden zwischenzeitlich auf 4,6%. Inﬂationsdruck entsteht außerdem dadurch, dass die US-Notenbank Fed die Zinsen schneller anhebt als die EZB. 4. Globale Ernährungskrise: Viele Entwicklungsländer sind indirekt vom Ukrainekrieg betroffen. So fallen die benötigten Getreideexporte aus der Ukraine und Russland aus oder kommen nur zögerlich ans Ziel. Dünger ist von der Teuerung und den Exportausfällen ebenfalls betroffen und somit sind Ernten in Nord- und Südamerika, Afrika und Asien bedroht. Der Chef der britischen Zentralbank, Andrew Bailey, warnte bereits im Mai 2022 vor „apokalyptischen“ Preissteigerungen bei Lebensmitteln.31 5. Corona: Das Damoklesschwert neuerlicher COVID-19-Varianten schwebt weiterhin über der Weltbevölkerung. Harte Maßnahmen der Politik im Herbst könnten Deutschland und viele andere Länder konjunkturell zurückwerfen. Die Prognosen verschiedener ExpertInnen und Institute bezüglich einer drohenden Rezession sind uneinheitlich. Welche am belastbarsten ist, lässt sich aufgrund der vielen externen Faktoren nur schwer feststellen. 39

9. Der starke Dollar als möglicher Bumerang (08.09.2022) Seit Monaten legt der US-Dollar gegenüber anderen Währungen an Wert zu. Erstmals seit 20 Jahren drückte er den Euro unter die Dollarparität. Auch der japanische Yen ﬁel gegenüber dem USD auf den niedrigsten Stand seit zwei Jahrzehnten. Inﬂationsbereinigt liegt der Dollar- Index der US Federal Reserve bereits höher als beim letzten Höchstwert vom März 2020. Der Dollar-Index des Wall Street Journal verzeichnete 2022 das beste erste Halbjahr seit 2010. USD/ Euro – Kurs September 2021 bis September 2022 Quelle: 1543873/ (06.09.2022) URL: https://www.ﬁnanzen100.de/waehrungen/us-dollar-euro-usd-eur_H865603837_ Gleichzeitig verzeichnen die USA die höchste jährliche Inﬂationsrate seit vier Jahrzehnten (8,5%) und die schlechteste Handelsbilanz seit der globalen Finanzkrise. 41

Handelsbilanzdeﬁzit USA 1997 - 2021 Quelle: URL: https://tradingeconomics.com/united-states/current-account-to-gdp (06.09.2022) Es gibt zahlreiche Gründe für die hohe Dollar-Nachfrage. Die Fed beschloss im Juni eine Erhöhung des Leitzinses um 0,75% (die höchste Anhebung seit 1994) und setzte die Anhebung im Juli mit einer Erhöhung um 0,75% fort. Da sich die US-Wirtschaft bisher nicht in unmittelbarer Nähe einer echten Rezession beﬁndet, besteht für die Notenbank noch immer Spielraum für weitere Straffungen der Geldpolitik. Die Europäische Zentralbank reagierte weit vorsichtiger auf die steigenden Inﬂationsraten weltweit. Das könnte daran liegen, dass die wirtschaftlichen Aussichten in Europa nicht so stabil sind wie in den USA. Die EZB ist besorgt über die hohe Verschuldung Italiens, da aggressivere Zinserhöhungen zu einem explosionsartigen Anstieg der Risikoaufschläge italienischer Staats- anleihen führen könnten. Auch die derzeitige geopolitische Lage stärkt den US-Dollar. Der Ukraine-Krieg stellt für Europa ein unmittelbareres Risiko dar als für die USA. Die Gefahr des schwelenden Konﬂikts zwischen China und Taiwan ist zwar für alle gegeben, besonders jedoch für das benachbarte Japan. Ökonom Kenneth Rogoff sieht in seinem Artikel „Will the Dollar’s Surge End in Whiplash?“.32 außerdem den wirtschaftlichen Abschwung Chinas als Grund für den starken Dollar. Dies betrifft Europa und Japan deutlich stärker als die USA. Gründe für den Abschwung sind Chinas Null-Covid-Lockdowns, die Folgen der übermäßigen Bautätigkeit, Chinas hartes Durchgreifen im Technologiesektor und die übermäßige Zentralisierung der Wirtschaftsmacht. Nicht zuletzt bereitet Europa und Japan die Abhängigkeit vom russischen Öl- und Gaslieferanten Sorgen. Die USA hingegen sind weitgehend autark im Energiebereich. Während die Situation für die US-amerikanischen BürgerInnen momentan sehr günstig ist (bil- lige Urlaube in Europa, Schnäppchenware aus dem Ausland etc.), hat sie auch eine Kehrseite. Exporte amerikanischer Firmen lassen sich immer schwerer verkaufen, denn die Käufer müssen die Waren mit USD bezahlen. Somit wachsen mit jeder Erstarkung des US-Dollars die Verluste der Exportindustrie und das Handelsdeﬁzit. Besonders dramatisch sind die Folgen für BürgerInnen, Firmen und Regierungen in den 42

Schwellen- und Entwicklungsländern. Diese müssen Milliarden an Devisenreserven auf den Markt werfen, um ihre Landeswährungen vor Kursstürzen und ihre BürgerInnen vor Rezession, Arbeitslosigkeit und Hyperinﬂation zu schützen. Zudem drohen neue Schuldenkrisen, weil viele ärmere Länder Kredite in Dollar aufgenommen haben, deren Rückzahlung jetzt viel teurer wird.33 Außerdem besteht das Risiko, dass der Zugang zu den internationalen Finanzmärkten für diese Länder verloren geht. Im Mai geriet zum Beispiel Sri Lanka in Zahlungsverzug. Hervorgerufen wurde das durch eine Kombination aus erdrückender Verschuldung und galoppierender Inﬂation. Das Land besitzt keine Dollar mehr, um Importe von grundlegenden Gütern wie Kraftstoff und Medikamente zu bezahlen. Die reicheren Handelspartner der USA in Europa und Ostasien geraten ebenfalls immer stärker unter Druck. Importe aus den USA werden stetig teurer und Rohstoffe wie Öl, Metalle, Holz und viele andere werden in USD gehandelt. Zusätzlich zur eigenen Inﬂation wird also auch die Inﬂation aus dem Ausland importiert. Daraus wächst die Gefahr, dass die EZB und andere Notenbanken die Zinsen noch drastischer anheben werden müssen und so die Konjunktur schwächen. Eine Rezession in Europa, vielleicht auch in Japan, Südkorea oder gar China, würde auch die US-Wirtschaft in massive Turbulenzen stürzen (siehe unseren Newsletter vom 01.09.2022: „Rezession in Sicht?“) Der aktuelle steile Anstieg des Dollars gegenüber den anderen wichtigen Währungen könnte sich also als Bumerang für die US-Wirtschaft erweisen. Die Wechselkursentwicklung ist per se extrem schwierig zu prognostizieren, in Krisensituationen gilt das besonders. Gemäß Rogoff ist das Einzige, das sich mit Sicherheit sagen lässt, dass die Phase außergewöhnlich stabiler Wechselkurse zwischen den wichtigsten Währungen, die 2014 begann, nun Geschichte ist. Mitte der 1980er Jahre, nach einem steilen Anstieg im Wert des Dollars, brauchte es sogar ein internationales Abkommen, um den Dollar zu schwächen. Im New Yorker Plaza-Hotel unterzeich- neten Vertreter der damaligen G5 (USA, Frankreich, Deutschland, Japan und Großbritannien) das „Plaza-Abkommen“, in dem sie sich gegenseitig verpﬂichteten, den Dollar schrittweise zu schwächen. In den kommenden zwei Jahren sank dessen Kurs gegenüber der Deutschen Mark und dem japanischen Yen um rund 50%.34 Eine Rückkehr zu normalen, besser austarierten Kursen wäre demnach wünschenswert, ein Uni- versalmittel dafür gibt es jedoch nicht. Ein Ende des Ukraine-Krieges und/oder der chinesischen Corona-Probleme könnte die Wirtschaft in diesen Erdteilen stärken und damit wieder mehr In- vestments anziehen. Die Fed könnte die Zinspolitik wieder umkehren, sobald die Inﬂationsraten dort sinken. Beides ist zumindest in näherer Zukunft nicht zu erwarten. 43

10. Die Stagﬂation ist da (13.10.2022) Für Ökonom Nouriel Roubini, der bereits seit einem Jahr in seinen Publikationen vor einer drohenden Stagﬂation warnt, ist es nun soweit: die stagﬂationäre Schuldenkrise ist da. Seinen wiederholten Prognosen zufolge, würde es im Falle einer Rezession eine schwerwiegen- de, langwierige und von weit verbreiteter ﬁnanzieller Not und Schuldenkrisen gekennzeichnete Rezession sein. Weiters argumentierte er, dass der Anstieg der Inﬂation von Dauer sein würde, und dessen Ursachen nicht nur eine verfehlte Politik, sondern auch angebotsseitige Schocks seien. Der Versuch der Notenbanken, die Inﬂation zu bekämpfen, würde zu einer harten wirtschaftlichen Landung35 führen. In unseren Newslettern vom 09.09.2021 (Damoklesschwert Stagﬂation) und 07.04.2022 (Da- moklesschwert Stagﬂation II) erwähnten auch wir bereits, dass eine Stagﬂation aufgrund der Kombination von Inﬂation und stagnierender oder gar schrumpfender Wirtschaft seit einiger Zeit als Damoklesschwert über den Märkten schwebt. Quelle: URL: https://tagesgeld.info/lexikon/stagﬂation/ (11.10.2022) Das Phänomen Stagﬂation trat im Zuge der Ölkrise in den 1970er Jahren in fast allen westlichen Ländern auf. Damals sorgten stark steigende Ölpreise für stark steigende Staatsschulden, hohe Arbeitslosenzahlen, höhere Preise und geringes Wachstum bzw. zwei Rezessionen. In der seit vielen Monaten andauernden Inﬂationsdebatte müssen sich nun jene, die den Anstieg der Inﬂation als vorübergehendes Phänomen ansahen, gegenüber jenen, die von einer dauerhaften Inﬂation ausgingen, geschlagen geben. Zusätzlich zu angebotsseitigen Schocks führte die lockere Geld-, Fiskal- und Kreditpolitik zu einem steilen Anstieg des Preiswachstums. 45

Die Europäische Zentralbank, die Bank of England und die US Federal Reserve haben bereits begonnen einzugestehen, dass eine weiche Landung kaum zu erreichen sein wird. Fed-Chef Jerome Powell spricht inzwischen davon, dass eine „weiche Landung“36 nur mit „gewissen Schmerzen“37 erreicht werden kann. Das Szenario einer „harten Landung“ entwickelt sich bereits zum Konsens unter Marktanalysten, Ökonomen und Anlegern. Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keinen einzigen Fall, bei dem die Fed bei einer Inﬂation von über 5% (derzeit 8,3%) und einer Arbeitslosenrate von unter 5% (derzeit 3,5%) eine weiche Landung hinbekommen hätte. Geht man also von einer harten wirtschaftlichen Landung in den USA aus, so ist sie in Europa aufgrund des russischen Energieschocks, des Abschwungs in China und der Tatsache, dass die EZB im Vergleich zur Fed der Entwicklung zunehmend hinterherhinkt, noch wahrscheinlicher.38 Inﬂationsrate USA Quelle: URL: https://tradingeconomics.com/united-states/inﬂation-cpi (11.10.2022) Arbeitslosenrate USA Quelle: URL: https://tradingeconomics.com/united-states/unemployment-rate (11.10.2022) 46

Inﬂationsrate Eurozone Quelle: URL: https://tradingeconomics.com/euro-area/inﬂation-cpi (11.10.2022) Arbeitslosenrate Eurozone Quelle: URL: https://tradingeconomics.com/euro-area/unemployment-rate (11.10.2022) Noch beﬁnden sich die großen Volkswirtschaften nicht in einer Rezession, die USA vermelden für die erste Jahreshälfte 2023 jedoch ein Negativwachstum und die meisten Kennzahlen für die Wirtschaftsaktivität in den hochentwickelten Volkswirtschaften deuten auf eine steile Konjunkturverlangsamung hin, die sich bei einer Straffung der Geldpolitik noch verschlimmern wird. Eine harte Landung zum Jahresende sollte als Basisszenario betrachtet werden, so Roubini. Die OECD prognostiziert 2023 für die Eurozone ein um 1,3% geringeres Wachstum von lediglich 0,3%. Für Deutschland wird eine Rezession erwartet.39 47

Quelle: URL: DiePresseonline (11.10.2022) Auch die aktuelle Prognose des Internationalen Währungsfonds IWF ist die schwächste seit rund 20 Jahren (mit Ausnahmen der Vorhersagen während der Pandemie und der Weltﬁnanzkrise). Der IWF senkt seine globale Wachstumsvorhersage für das Jahr 2023 um 0,2% auf 2,7%. In der Eurozone soll das BIP im kommenden Jahr nur noch um 0,5% wachsen, in Deutschland und Italien wird eine Rezession prognostiziert. Weiters warnt der IWF davor, dass mehr als ein Drittel der Weltwirtschaft im Jahr 2023 schrump- fen wird. In den drei größten Volkswirtschaften – den USA, der EU und China – werde das Wachstum stagnieren. Die kommende Rezession wird nach Meinung vieler anderer Analysten jedoch kurz und ﬂach verlaufen. Roubini erwartet durch die jüngsten Probleme an den Finanzmärkten und die Be- mühungen der Notenbanken, die Inﬂation auf den Zielwert (EZB 2%, Fed 2%) zu drücken, das Gegenteil. Er sieht eine Wirtschafts- und Finanzkrise kommen und betont die Gefahr einer schweren anhaltenden stagﬂationären Schuldenkrise. Sollte sich das Szenario einer harten wirtschaftlichen Landung und einer Finanzkrise bewahr- heiten, sieht Roubini die Notenbanken unter immensem Druck ihre Geldpolitik wieder zu lockern. Anzeichen dafür gibt es bereits in Großbritannien. Angesichts der Reaktion des Marktes auf die ﬁskalischen Impulse der neuen Regierung hat die Bank of England ein Notprogramm zur quantitativen Lockerung40 eingeleitet, um Staatsanleihen aufzukaufen. Erste Anzeichen dafür, dass eine durch Instabilität und angebotsseitige Schocks gekennzeich- nete Stagﬂation bereits eingetreten ist, ist unter anderem die zunehmende Vereinnahmung der Geldpolitik durch die Fiskalpolitik. Letztere richtet sich zum Beispiel zunehmend auf die Steigerung der Löhne und die Macht der Arbeitnehmer aus. Zusätzlich zu den angeführten Schocks könnten das Problem der gesellschaftlichen Überalte- rung in vielen bedeutenden Volkswirtschaften (verschärft durch Einwanderungsbeschränkun- 48

11. Das Schlimmste kommt erst noch (20.10.2022) Am 11. Oktober 2022 veröffentlichte der IWF (Internationale Währungsfonds) seinen aktuellen Bericht zur Weltwirtschaftslage42. Die Aussichten sind düster. Die globale Wirtschaft unterliegt einer Vielzahl von turbulenten Herausforderungen. Die Inﬂation, die höher ist als in den letzten Jahrzehnten, Russlands Invasion in die Ukraine und die Auswir- kungen der COVID-19-Pandemie wirken sich signiﬁkant auf die Prognosen aus. Es wird erwartet, dass ein Drittel der Weltwirtschaft bis 2023 in die Rezession rutscht. Die Konjunktur dürfte sich weiter abkühlen. Als Hauptgrund nennt der IWF die seit Beginn des Ukraine-Krieges sprunghaft gestiegenen Prei- se, die die Kaufkraft der Verbraucher deutlich einschränken. „Das Schlimmste kommt erst noch, und für viele Menschen wird sich 2023 auch wie eine Rezession anfühlen", sagte IWF-Ökonom Pierre-Olivier Gourinchas.43 Die globale Wirtschaft stehe vor riesigen Herausforderungen, da die Inﬂation hartnäckiger sei als gedacht und auch China an Zugkraft verliere. So prognostiziert der IWF für 2022 ein weltweites Wirtschaftswachstum von 3,2% (6% im Jahr 2021) und im Jahr 2023 soll die globale Wirtschaft nur mehr um 2,7% wachsen. Mit Ausnahme der Finanzkrise und der Akutphase während der Pandemie waren die Wachstumsaussichten seit 2001 nie schlechter als jetzt. Für die größten Volkswirtschaften bedeutet das eine massive Verlangsamung des Wachstums. In den USA sank das BIP bereits im ersten Halbjahr 2022, da der Konsum die Wirtschaft nicht mehr wie gewohnt anschiebt. Europa ist besonders vom Krieg und den Energiepreisen betroffen, weshalb das Wirtschafts- wachstum in der Eurozone im zweiten Halbjahr 2022 sank. In China tragen die COVID-19-Lockdowns und die Immobilienkrise zum Wachstumsrückgang bei. 51

Quelle: URL: https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2022/10/11/world-economic-outlook- october-2022 (18.10.2022) Im Euroraum wird das BIP im Jahr 2022 um 3,1% wachsen, im Jahr 2023 nur noch um 0,5%, letzteres eine deutliche Herabstufung im Vergleich zur vorigen Prognose von 1,2%. Dabei geht der IWF von einer Rezession für Deutschland und Italien aus. Deutschlands Volkswirtschaft werde im laufenden Jahr noch um 1,5% wachsen, im Jahr 2023 schrumpfe es jedoch um 0,3%. Somit korrigierte der IWF seine Prognose vom April 2022 um 3% nach unten. Die USA; die größte Volkswirtschaft der Welt, werden nach Einschätzung der ExpertInnen dieses Jahr um 1,6% wachsen und das Jahr darauf um 1%. Quelle: URL: https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2022/10/11/world-economic-outlook- october-2022 (18.10.2022) Die Entwicklung in Russland sieht der IWF weniger dramatisch als bereits prognostiziert. 52

Während die ExpertInnen ihre Prognosen für die meisten Wirtschaftsräume senkten, werde die russische Wirtschaft 2022 und 2023 zwar schrumpfen, jedoch deutlich weniger kräftig als noch zuletzt angenommen. Demnach wird das BIP Russlands 2022 um 3,4% zurückgehen, 2023 um 2,3%. 2021, vor dem Angriff der Ukraine und den vom Westen gegen Moskau verhängten Sanktionen, war die russische Wirtschaft noch um 4,7% gewachsen. Quelle: URL: https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2022/10/11/world-economic-outlook- october-2022 (18.10.2022) Die weltweite Inﬂation wird gemäß IWF von 4,7% im Jahr 2021 auf 8,8% im Jahr 2022 steigen, im Jahr 2023 auf 6,5% sinken und 2024 bei 4,1% liegen. Ihren Höhepunkt wird die Inﬂation demgemäß Ende 2022 erreichen. Schwellen- und Entwicklungsländer dürften stärker betroffen sein als Industriestaaten, so der IWF. Für sie ist der starke Dollar, der auf dem höchsten Niveau seit zwei Jahrzehnten liegt, ein großes Problem. Der IWF betonte, dass die Prognosen außerordentlich unsicher seien. Die künftige Entwicklung der Weltwirtschaft hänge entscheidend von der Geldpolitik, dem Verlauf des Krieges in der Ukraine und möglichen weiteren pandemiebedingten Störungen - zum Beispiel in China - ab. IWF-Ökonom Pierre-Olivier Gourinchas betont, dass die politischen Entscheidungsträger eine ruhige Hand bewahren müssen, während sich die Gewitterwolken zusammenbrauen. Er warnt Regierungen, mit ihrer Ausgabenpolitik die Bemühungen von den Zentralbanken zu konterkarieren, die Teuerung zu bändigen. Die aktuelle Energiekrise sieht er nicht als Über- gangsphänomen, sondern als Ergebnis der geopolitischen Neuausrichtung. Courinchas wendet sich gegen Versuche von Regierungen, die Energiepreise durch Preisdeckel, unspeziﬁsche Subventionen oder Exportverbote kontrollieren zu wollen, da dies nur selten funktioniere. 53

12. Das letzte Hurra (10.11.2022) Die dreizehnte Ausgabe des „Global Wealth Report“45 der Allianz, der das Geldvermögen und die Verschuldung der privaten Haushalte in fast 60 Ländern analysiert, zeigt in seiner Ausgabe vom Oktober 2022 erneut einen Anstieg des globalen Geldvermögens im Jahr 2021. Gemäß dem Bericht markiert das Jahr 2022 jedoch einen Wendepunkt. Der Angriffskrieg Russlands hat den Post-Corona-Aufschwung abgewürgt, die Inﬂation ist ungebremst hoch, Energie und Lebensmittel sind knapp und die Verschärfung der Geldpolitik setzt Wirtschaft und Märkte unter Druck. Ende letzten Jahres summierte sich das globale Vermögen zu geschätzten 436.600 Milliarden USD. Dies bedeutet ein Wachstum von 9,8% gegenüber dem Jahr 2020 und liegt weit über dem jährlichen Durchschnitt von 6,6%. Lässt man die Schwankungen der Wechselkurse außer Acht, wuchs das globale Geldvermögen sogar um 12,7% und verzeichnet somit die höchste Wachstumsrate, die jemals dahingehend gemessen wurde. Das Vermögen pro Erwachsenen stieg weiter auf USD 87.489 am Ende des Jahres 2021. Haupttreiber dieser Entwicklung war ein wahres Kursfeuerwerk an den Börsen, das für einen Boom der Aktienmärkte sorgte. Betrachtet man das Vermögenswachstum staatenweise, kam es in den USA zum größten Zuwachs an Haushaltsvermögen, gefolgt von China, Kanada, Indien und Australien. Vermögens- verluste waren 2021 seltener als zuvor und meistens bedingt durch die Währungsabwertung gegenüber dem US-Dollar. Dies betraf zum Beispiel Japan, Italien oder die Türkei. Während die Schweiz immer noch bezüglich Pro-Kopf-Vermögen führt (USD 696.600), gefolgt von den USA46 (USD 579.050), der Sonderverwaltungszone Hongkong (USD 552.930) und Aus- tralien (USD 550.110), liegen beim relevanteren durchschnittlichen Vermögen pro Kopf Australien (USD 273.900), Belgien (USD 267.890) und Neuseeland (USD 231.260) vorne. 55

https://www.handelsblatt.com/ﬁnanzen/anlagestrategie/trends/allianz-global-wealth- Quelle: URL: report-weltweites-vermoegen-wird-erstmals-wieder-schrumpfen-2022-als-wendepunkt/28741588. html (08.11.2022) Der Report beleuchtet auch das Vermögenswachstum innerhalb bestimmter Untergruppen der Bevölkerung. Demnach konnten die Millennials und die Generation X in den USA und Kanada ihr Vermögen hauptsächlich zwischen 2019 und 2022 generieren. In den USA konnten die Haushalte von AfroamerikanerInnen (22,2%) und LateinamerikanerInnen (19,9%) das größte Vermögenswachstum erzielen, hauptsächlich durch den Anstieg der Immobilienpreise. Es wird geschätzt, dass von den 26 Staaten, die 59% der weltweiten erwachsenen Bevölkerung stellen, in 15 Staaten (darunter China, Deutschland und Indien) in den Jahren 2020 und 2021 ein Rückgang der Vermögen von Frauen zu verzeichnen ist. In den verbliebenen Staaten (inklusive USA und Großbritannien) stieg das durchschnittliche Vermögen im Verhältnis zu dem der Männer an. Das weltweit starke Wachstum der Vermögen hat 2021 aber auch einen Anstieg der Vermögen- sungleichheit zur Folge. Der Vermögensanteil der weltweit vermögendsten 1% stieg im zweiten Jahr in Folge und lag 2021 bei 45,6% gegenüber 43,9% im Jahr 2019. Die Zahl der US-Dollar- Millionäre erhöhte sich im Jahr 2021 um 5,2 Millionen und lag zum Jahresende bei 62,5 Millionen weltweit. Dieser Anstieg von 9% lag geringfügig über dem Vermögenszuwachs je Erwachsenen von 8,4%, jedoch unter dem Anstieg des Median-Vermögens von 9,5%. 56

Quelle: URL: https://www.credit-suisse.com/about-us/en/reports-research/global-wealth-report.html (08.11.2022) Eine detaillierte Analyse des Median-Vermögens innerhalb einzelner Länder sowie auf weltweiter Basis verdeutlicht, dass die globale Vermögensungleichheit in diesem Jahrhundert aufgrund des schnelleren Wachstums in den Schwellenländern zurückgegangen ist. Das globale Median- Vermögen ist etwa doppelt so schnell gestiegen wie das globale Vermögen je Erwachsenen und deutlich schneller als das globale BIP. So konnten Durchschnittshaushalte in den letzten zwei Jahrzehnten Vermögen aufbauen. Weltweit werden die Haushalte den Ukraine-Krieg, die steigende Inﬂation, die Energiekrise und die Verschärfung der Geldpolitik auch bei ihren Vermögen spüren. Das globale Geldvermögen dürfte 2022 um mehr als 2% zurückgehen, der erste nennenswerte Vermögensverlust seit der Finanzkrise 2008. In realer Rechnung - unter Berücksichtigung der Inﬂation - könnten die Haushalte ein Zehntel ihres Vermögens einbüßen. Im Gegensatz zur Finanzkrise, auf die eine relativ schnelle Erholung folgte, sind diesmal auch die mittelfristigen Aussichten eher trübe: In den nächsten drei Jahren bis 2025 dürfte das jährliche nominale Wachstum des Geldvermögens etwa 4,6% betragen, in den vergangenen drei Jahren lag es bei 10,4%. Gleichzeitig stiegen aber auch die Verbindlichkeiten der Haushalte weltweit um 7,6%, was sowohl 57

deutlich über dem langjährigen Mittel (4,6%) als auch über dem des Vorjahres (5,5%) liegt. Das letzte Mal, dass das Schuldenwachstum noch höher lag, war 2006, noch vor der Finanzkrise. Die Schuldenquote (Verbindlichkeiten in Prozent des BIP) ist dennoch leicht zurückgegangen, auf 68,9% (2020: 70,5%), dank des kräftigen Anstiegs der nominalen Wirtschaftstätigkeit. „2021 bedeutet das Ende einer Ära", meint Ludovic Subran, Chefvolkswirt der Allianz. „Die letz- ten drei Jahre waren außergewöhnlich, ein wahrer Geldsegen für die meisten Sparer. Nicht nur 2022, sondern auch die kommenden Jahre werden anders sein", so Subran. Die Inﬂationskrise stelle den sozialen Kontrakt auf die Probe. Die Politik stehe vor der enormen Herausforderung, die Energiekrise zu meistern, die grüne Transformation zu sichern und Wachstum zu schaffen - während zugleich die Geldpolitik kräftig auf die Bremse trete. Ës gibt jetzt keinen Raum für Fehler mehr", sagte Subran. Die weltweiten Krisen dürften in den nächsten Jahren die reale Vermögensbildung beeinträchtigen. Dennoch wird erwartet, dass das globale Vermögen in nominalen US-Dollar bis 2026 um USD 169.000 Milliarden ansteigen wird, was einem Zuwachs von 36% entspricht. Auf Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen entfallen derzeit 24% des Gesamtvermögens, doch sie werden in den kommenden fünf Jahren für 42% des Vermögenszuwachses verantwortlich zeichnen. Länder mit mittleren Einkommen werden als Haupttreiber globaler Trends fungieren. Das globale Vermögen je Erwachsenen wird bis 2026 voraussichtlich um 28% steigen und 2024 die Schwelle von USD 100.000 überschreiten. Auch die Zahl der Millionäre wird sich in den kom- menden fünf Jahren voraussichtlich deutlich erhöhen und die Marke von 87 Millionen erreichen. 58

1. Was die Zinswende der USA verändern wird (10.02.2022) Anfang Jänner wurde das Protokoll der Dezember-Sitzung der Fed veröffentlicht, in dem US-Notenbank Chef Jerome Powell eine deutliche Verschärfung der Geldpolitik ankündigte. Ins- gesamt drei Zinserhöhungen werden erwartet, sodass der Leitzins bis zum Jahresende 2022 auf 0,75% bis 1% steigen dürfte. Auch für das Folgejahr 2023 wurden drei weitere Zinserhöhungen signalisiert, der Leitzins dürfte dann zwischen 1,5% und 1,75% liegen. In einer ersten Reaktion brachen die Kurse von Anleihen und im Aktienbereich die Preise der hochbewerteten Tech-Titel stark ein. Die Erkenntnis, dass die Fed wahrscheinlich relativ schnell ihre Bilanzsumme, die durch die umfangreichen Anleihenkäufe zuletzt auf 8.800 Milliarden USD angeschwollen war, abbauen will, kam schockartig und die Wall Street stabilisierte sich erst tags darauf wieder. Die Auswirkungen der Ankündigung gingen jedoch weiter. Seither brach etwa der Kurs des Technologie-Index Nasdaq 500 um 5% ein und wurde nur durch eine Rückkauf-Ankündigung von Googles Mutterkonzern Alphabet zwischenzeitlich aufgefangen. Auch in Europa führte die Ankündigung einer Zinswende der Fed bereits zu fallenden Kursen in der Tech-Branche. Ebenso verhält es sich mit den Kursen der Kryptowährungen. Fast alle bedeutenden Digitalwährungen verloren massiv an Wert. Bitcoin etwa büßte im Jänner rund 20% seines Wertes ein. An der Börse wird befürchtet, dass viele Anleger bei einer Rückkehr der Zinsen keine Notwen- digkeit mehr sehen, ihr Geld in Wertpapiere und Kryptowährungen zu investieren. Besonders Sparern, die ihr Vermögen nur vor der Inﬂation schützen wollten und deswegen investiert haben, könnten ihre Gelder vom Depot zurück auf das Sparkonto transferieren.47 61

Quelle: URL: https://www.ﬁnanzen.net/index/nasdaq_1002 (08.02.2022) Einige Experten halten die Zinswende für gut und notwendig, damit die Bewertungen wieder eine Grundlage ﬁnden. „Für die Aktienmärkte hat der kommende Liquiditätsentzug zunächst einen dämpfenden Effekt – denn die positive Korrelation aus Aktienkursniveau und Liquidität wirkt hier durch“, so Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Sparkassenfondstochter Deka.48 Eine Erholung ist hingegen im Banken-Sektor zu erkennen. Die Preise von Bank-Aktien erhöhen sich, was ebenfalls mit dem Umdenken der Notenbanken zusammenhängt. Kommen erneut Zinsen ins Spiel, gewinnen Banken wieder an Bedeutung. Dies könnte ein Comeback der traditionellen Tagesgeld- und Festgeldkonten bedeuten. Deutsche Bank Aktie – 6 Monate Quelle: URL: https://www.ﬁnanzen.net/aktien/deutsche_bank-aktie (09.02.2022) 62

Viele Ökonomen rechnen nun mit einem Rückgang der Inﬂation in Europa und in den USA. Tatsächlich hat Fed-Chef Powell dem Druck von Ökonomen und Finanziers nachgegeben und als Grund für die Straffung der Geldpolitik die Inﬂationsbekämpfung angegeben. Die Inﬂation in den USA liegt zurzeit bei 7%, dem höchsten Wert seit Juni 1982. Aus der Corona-Krise resultierende Lieferprobleme, Materialengpässe und explodierende Energiekosten trieben die Teuerungsrate zuletzt nach oben. Lange hatte die US-Zentralbank darauf gepocht, dass die steigenden Preise nur eine vorüberge- hende Entwicklung seien. Aus den Protokollen geht nun jedoch hervor, dass ein Umdenken bei den Währungshütern stattgefunden hat. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt wird ob der rekordhohen Anzahl der Kündigungen und offenen Stellen als angespannt betrachtet. Viele Fed-Mitglieder gehen davon aus, dass, sollte die Entwicklung anhalten, Vollbeschäftigung schnell erreicht werden würde. Es wird befürchtet, dass höhere Entgelte zu einer gefährlichen Lohn-Preis-Spirale führen. Arbeitslosenrate USA Quelle: URL: https://tradingeconomics.com/united-states/unemployment-rate (09.02.2022) Der Ökonom James K. Galbraith sieht das jedoch anders: „Zinserhöhungen tun nichts, um der Inﬂation kurzfristig entgegenzuwirken, und langfristig wirken sie nur preissenkend, indem sie eine neuerliche Wirtschaftskrise herbeiführen.“49 Die jetzige Reaktion der Fed besagt laut Galbraith, dass sie einige Preise gerne nach unten „zwingen“ würde, um die steigenden Energie- und Lieferkettenkosten auszugleichen und so die Durchschnittsinﬂationsrate schnellstmöglich wieder auf ihren Zielwert von 2% zu drücken. Dafür können für die Fed nur die Löhne in Frage kommen. Da die Preise für Energie und für die meisten Güter weltweit festgesetzt werden, sind die Löhne für Dienstleistungserbringer der einzige Teil der Preisstruktur, der sich durch die neue Politik der Fed direkt beeinﬂussen lässt. Während die Zinswende in den USA bereits beschlossene Sache ist, verkündete die EZB erst Ende Jänner, dass sie bei ihrem Kurs bleiben wird und die Zinsen vorerst nicht erhöht werden. Das Anleihekaufprogramm PEPP soll allerdings auslaufen, danach könnte die Zinswende auch in der Eurozone eingeläutet werden. 63

2. Kommt der digitale Dollar? (17.02.2022) Am 20. Jänner legte die Fed das lang erwartete Positionspapier zur Einführung einer digitalen Version des US-Dollars vor. Das Papier war 2021 von Fed-Chef Jerome Powell angekündigt worden und eröffnet die Diskussion über eine digitale Zentralbankwährung (Central Bank Digital Currencies, CBDC) nun auch in den USA. Die US-amerikanische Notenbank gibt sich jedoch zurückhaltend. In dem aktuellen Papier lässt sie offen, ob ein digitaler Dollar eingeführt werden soll. Aufgelistet werden Vor- und Nachteile. Als Vorteil des digitalen Dollars nennt die Fed schnellere Zahlungen und eine im Vergleich zur privatwirtschaftlich organisierten digitalen Konkurrenz höhere Sicherheit. Verwiesen wird jedoch auf die Gefahren für die Finanzstabilität und den Risiken beim Daten- schutz. Immer noch offen ist, wie digitales Zentralbankgeld den Haushalten zur Verfügung gestellt werden kann, ohne die Geschäftsbanken zu übergehen. Die Regierung müsse zudem in der Lage sein, illegale Finanzströme zu bekämpfen. Bisher war in den USA der digitale Dollar kein großes Thema. Tatsächlich ist die EZB der Fed bei den Vorbereitungen zur Einführung eines digitalen Euros bereits weit voraus. Im vergangenen Jahr nannte EZB-Präsidentin Christine Lagarde für die Einführung einen Zeitraum von fünf Jahren. Bereits im Jahr 2023 will die EZB den ersten Prototyp einführen. Dazu kommen die Bemühungen vieler Länder, vor allem Chinas, die bereits seit längerem mit digitalen Zentralbankwährungen experimentieren (siehe Newsletter „Zentralbankgeld goes digital“ vom 06.05.2021). Die Digitalisierung im Zahlungsverkehr schreitet immer weiter voran und die Bargeldnutzung nimmt in vielen Ländern ab. Zentralbanken geraten daher unter Druck nicht den Anschluss an die technologische Entwicklung und womöglich die Währungshoheit an große Technologiekonzerne zu verlieren. Wie Banknoten und Münzen sollen auch CBDCs ein leicht nutzbares gesetzliches Zahlungsmittel sein, nur eben in digitaler Form. Bisher sah es eher so aus, als würde die US-Politik den Banken erlauben, Stablecoins, die an den Preis des US-Dollars gebunden sind, herauszugeben. Auf diesen Trend setzen US-Unternehmen wie Circle (gemeinsam mit Coinbase Herausgeber von USDC) oder Paxos (Herausgeber von USDP, Pax Dollar), die selbst Banklizenzen haben wollen. Gerade digitale Währungen haben aber das Potenzial, weltweit genutzt zu werden. Der Dollar darf dem Euro oder dem Yuan daher in nichts nachstehen.50 Seitens der Fed heißt es: „In den Vereinigten Staaten gibt es derzeit zwei Arten von Zentralbank- geld: physisches Geld, das von der Federal Reserve ausgegeben wird, und digitale Guthaben, die von Geschäftsbanken bei der Federal Reserve gehalten werden. Während die Amerikaner seit langem Geld überwiegend in digitaler Form halten (z.B. auf Bankkonten, in Zahlungs-Apps oder durch Online-Transaktionen), würde sich ein CBDC von dem bestehenden digitalen Geld, das der Allgemeinheit zur Verfügung steht, unterscheiden, da ein CBDC eine Verbindlichkeit der 65

Federal Reserve und nicht einer Geschäftsbank wäre.“51 Die Zentralbank würde demnach den digitalen Dollar selbst herausgeben und kontrollieren. Nach Veröffentlichung des Positionspapiers soll nun vier Monate mit der Öffentlichkeit und den Stakeholdern über Vor- und Nachteile diskutiert werden. Betont wird seitens der Fed, dass ein möglicher digitaler Dollar keinesfalls Cash und Papiergeld ersetzen würde, sondern als Ergänzung angesehen wird. Dies wird auch von der EZB immer wieder hervorgehoben (siehe Newsletter „Digitaler Euro in Sicht“ vom 08.10.2020). Die Auswirkungen eines digitalen Dollars auf die US- und auch die Weltwirtschaft sind nur schwer abzuschätzen. Das Zögern der Fed in Bezug auf jegliche Veränderung des beste- henden Finanzsystems ist insofern verständlich, da die internationale Dominanz des Dollars den Vereinigten Staaten unzählige Vorteile verschafft. Sie erlaubt es den USA als weltgrößte Volkswirtschaft und damit ihrer Zentralbank auf das Zinsniveau bestimmend Einﬂuss zu nehmen. Dies kann für Zinsen zahlende amerikanische Bürger und Unternehmen von Vorteil sein, ebenso wie für den größten Kreditnehmer der Welt: die US-Regierung. Weiters verschafft die Dominanz des Dollars den US-Behörden auch Einﬂuss auf das globa- le Finanzsystem, einschließlich eines privilegierten Zugangs zu Informationen über weltweite Dollar-Transaktionen (siehe Newsletter „Die Dominanz des Dollars schwächelt“ vom 29.04.2021). Ökonom Kenneth Rogoff weist in seinem Artikel „The Fed’s Wary Embrace of Digital Dollars“52 vom 01.02.2022 darauf hin, dass in dem Papier der Fed die Frage, wie die Fed die dezentralisier- ten Finanztechnologien des Web 3.053 zu regulieren gedenkt, auffallend wenig Erwähnung ﬁndet. Bei diesem Thema wären die US-Regulierungsbehörden zu oft untätig geblieben. Besonders das Wachstum privater Kryptowährungen und ihrer zahlreichen Derivate müssten behördlich gelenkt und eingedämmt werden. Die US-Senatorin Elizabeth Warren meinte: „Kryptowährungen sind die neue Schattenbank“54. Die weit verbreitete Ansicht, dass Kryptowährungen im Grunde nur für Investitionen und nicht für Transaktionen und Kapitalﬂüsse genutzt werden, sei laut Rogoff ein Wunschdenken, wie jüngste Untersuchungen gezeigt haben. Die Fed schließt sich jedoch in ihrem Paper dieser Ansicht an. Daher plädiert der Ökonom für eine strenge Regulierung für die Verwendung von Kryptowährungen in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften und die Verwendung von CBDC in anderen Ländern. Im Mai letzten Jahres kündigte die privatwirtschaftliche Organisation „The Digital Dollar Project“ den Start von fünf Pilotprojekten an, die die möglichen Vorteile einer ofﬁziellen digitalen Währung aufzeigen sollten. Dahinter verbirgt sich eine Partnerschaft zwischen Finanzunternehmen, Ein- zelhändlern und NGOs. Die Ergebnisse sollen Politik und Wissenschaft helfen, einen digitalen Dollar zu entwickeln. Mit der Veröffentlichung des Positionspapiers zeigt die Fed acht Monate später noch immer Zu- rückhaltung gegenüber dem Thema. Die Konsultation der Öffentlichkeit zum Paper läuft nun bis zum 20. Mai. Danach will die US-Notenbank weitere Schritte prüfen. 66

3. Neuauﬂage der Euro-Krise? (30.06.2022) Anfang Juni verkündet EZB-Cheﬁn Christine Lagarde in Amsterdam das lang erwartete Ende der Anleihenkäufe und stellt endlich eine erste Zinserhöhung für Juli in Aussicht. Die Inﬂationsrate war im Mai in der Eurozone auf 8,1% gestiegen. Seit dieser Sitzung vor wenigen Wochen scheint die positive Stimmung umgeschlagen zu haben. Nachdem Ökonomen es begrüßt hatten, dass Worten nun Taten folgen, nahm seither die Angst vor der Euro-Krise zu. Die Renditen zehnjähriger Staatsanleihen hochverschuldeter Staaten Südeuropas ziehen kräftig an. In Italien sind es zeitweise über 4%, Griechenland liegt knapp darunter, in Spanien waren es zeitweise 3% und in Frankreich fast 2,5%. Noch zu Jahresbeginn lagen die Zinsen, die die Länder für die Reﬁnanzierung ihrer Anleihen zahlen mussten, teilweise unter 1%.55 Experten wie Clemens Fuest, Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung, oder der US-Ökonom Nouriel Roubini sehen in den dramatischen Zinsanstiegen ganz klar die Rückkehr der Euro- Krise. Erinnerungen an das Jahr 2012 werden wach: Damals verloren die globalen Finanzmärkte schlagartig das Vertrauen in die Schuldentragfähigkeit südeuropäischer Euro-Staaten. Speku- lanten gingen hohe Wetten auf Staatspleiten und Zusammenbruch des Euros ein. Zehnjährige italienische Staatsanleihen rentierten bei mehr als 7%. Mario Draghi, damals Chef der EZB, verhinderte mit seiner legendären „Whatever it takes“-Rede und den darauffolgenden Billionen-Programmen zum Ankauf von Staatsanleihen, die die Zinslast für überschuldete Staaten erträglich hielten, ein mögliches Ende der Währungsgemeinschaft. Durch die zusätzlich erzeugte Nachfrage nach den Schuldpapieren hielt er die Zinslast auch für hochverschuldete Staaten in erträglichen Grenzen.56 Heute, zehn Jahre später, haben die Zinsniveaus noch lange nicht die Niveaus von 2012 erreicht, die Risiken für eine Neuauﬂage der Euro-Krise sind jedoch groß. Die Staatsverschuldung der Euro-Länder betrug damals 9.000 Milliarden Euro, heute sind es wegen der permanenten staatlichen Stützungsprogramme 12.400 Milliarden Euro. Das entspricht fast der gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung der Währungsunion. 67

Mit steigender Inﬂation wird die Europäische Zentralbank nun gezwungen, ihrer Verantwortung, die Stabilität der Preise zu sichern, nachzukommen. Doch gerade jetzt brauchen die Euro- Staaten eigentlich mehr Geld und nicht weniger. Die Ankündigung der EZB, dass die Gelder aus auslaufenden Anleihen des Corona- Notkaufprogramms PEPP bevorzugt in neue Staatsanleihen hoch verschuldeter Euro-Länder ﬂießen sollen und zudem neue Anti-Krisen-Instrumente entwickelt werden sollen, sorgte nur kurzfristig für Kursgewinne an den europäischen Märkten und beschwichtigende Kommentare der Ökonomen. Die Spreads (Zinsaufschläge für Staatsanleihen unsicherer Schuldner) weiteten sich, zusätzlich befeuert durch die hohe Inﬂation in den USA, aus. Auch das Versprechen der EZB, die „Frag- mentierung“ der Euro-Zone auf keinen Fall zuzulassen, wirft eher die Frage nach der konkreten Umsetzung auf. EZB-Direktorin Isabel Schnabel betont, dass man „fundamentale“ Unterschiede, also ökono- misch begründete Unterschiede bei den Renditen der einzelnen Euro-Staaten, nicht bekämpfen wolle, wohl aber spekulative Übertreibungen. Die Abgrenzung zwischen „fundamentalen Grün- den“ für Zinsunterschiede und „Spekulation“ lässt sich jedoch nicht aus Daten ableiten oder objektiv bestimmen, was sie zum Hauptthema des Problems macht. Offenbar ﬁndet ein Konzept ähnlich dem Corona-Wiederaufbaufonds der EU im EZB-Rat einen gewissen Anklang. Dabei geht es um gezielte Hilfen für einzelne Staaten, um die Breite der Inﬂation zu bekämpfen und Kompromisse bei den Auﬂagen. in der Europas Zusammenhalt wichtiger ist denn je, verweist der Chef des In einer Zeit, Rettungsschirms ESM, Klaus Regling, optimistisch auf drei Gründe, warum die Euro-Zone heute widerstandsfähiger sei als zu Beginn des letzten Jahrzehnts: Erstens gebe es nicht mehr die gewaltigen makroökonomischen Probleme von damals (Verlust von Wettbewerbsfähigkeit und riesige Handelsbilanzdeﬁzite). Zweitens seien die Zinslasten in den Euro-Haushalten auf niedrigstem Niveau seit einem halben Jahrhundert (trotz der höheren Schuldenstände). Und drittens gebe es die neuen Institutionen, die den Euro-Raum absicherten (gemeinsame Bankenaufsicht, der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM)). Bis zur Sitzung im Juli sollte die EZB wohl ihre konkrete Vorgehensweise präsentieren. Eine grundsätzliche, dauerhafte Lösung kann es dabei alleine durch den Fakt, dass der Euro-Raum eine Währungs- aber keine Fiskalunion ist, nicht geben. Eine vorübergehende Lösung kann jedoch auch lange funktionieren, wenn es so etwas wie eine gemeinschaftliche Finanz- und Verschuldungspolitik gibt. Die Euro-Zone ist dazu deﬁnitiv auf neue, innovative Ideen und Optionen in der Geldpolitik angewiesen. 69

4. EZB in der Kritik (15.09.2022) Bereits seit vielen Monaten ob ihrer abwartenden Haltung in der Kritik, scheint die Europäische Zentralbank es mit dem letzten großen Zinserhöhungsschritt ebenfalls kaum jemandem recht machen zu können. Zunächst bekam der historische Zinsschritt der EZB am 8. September 2022 viel Zustimmung. Vor allem Ökonomen aus dem Bankenbereich, aber auch Einrichtungen wie das Ifo Institut be- grüßten die Anhebung der Schlüsselzinssätze um jeweils 0,75%. Dies ist die stärkste Anhebung seit 22 Jahren. Zudem kündigte die Notenbank weitere Zinsanhebungen bei ihren nächsten Sitzungen an. Quelle: URL: https://de.statista.com/infograﬁk/4649/entwicklung-der-leitzinsen/ (13.09.2022) Eine knappe Woche später äußern bereits immer mehr Experten Bedenken. Achim Truger, deut- scher Wirtschaftswissenschaftler und Mitglied des Sachverständigenrates, meint: „Rekorderhö- hung und Rezessionsprognose – ob das eine gute Kombination ist? Hoffentlich geht das gut. . . “. Für seinen Kollegen Gustav Horn, Bundesvorstandsmitglied der SPD, sind die Zinsanhebun- gen der EZB ebenfalls übertrieben: „Bislang gibt es keine Lohn-Preis-Spirale, was eine sinkende Kaufkraft impliziert.“ 71

Quelle: URL: https://ﬁnanzmarktwelt.de/lohn-preis-spirale-klare-indizien-237826/ (13.09.2022) Eine Lohn-Preis-Spirale beschreibt eine Entwicklung, bei der die Arbeitnehmer zum Ausgleich des Kaufkraftverlustes infolge der gestiegenen Preise höhere Löhne fordern. Das wiederum lässt die Kosten der Unternehmen steigen, die diese in Form von Preisanhebungen an ihre Kunden weiterreichen.57 Silke Tober, Expertin des IMK-Instituts, hält die Anhebung der EZB-Zinsen für gerechtfertigt, die Festlegung der EZB auf bis zu vier weitere Zinsschritte sei aber riskant. Im August erreichte die Inﬂationsrate mit 9,1% einen neuen Rekordwert in der Eurozone. Quelle: URL: https://tradingeconomics.com/euro-area/inﬂation-cpi (13.09.2022) EZB-Cheﬁn Christine Lagarde gestand während der Pressekonferenz zur Anhebung der Zinsen auch Fehler bei den Inﬂationsprognosen ein. Sie verwies jedoch auch auf die falschen Vorher- sagen vieler ÖkonomInnen und die Unvorhersehbarkeit der Folgen des Ukrainekrieges wie die steigenden Energiepreise. 72

Gerade in diesem Eingeständnis sieht Tober einen Fehler. Damit würde sich die EZB selbst unter Druck setzen, Preiserhöhungen zu bekämpfen, die von der Angebotsseite kommen und daher kaum zu beeinﬂussen sind. Die nötige Flexibilität um auf eine starke Rezession zu reagieren, könnte der EZB damit verloren gehen. Die Experten der EZB haben die Inﬂationseinschätzungen für 2022 und 2023 deutlich erhöht. Die Vorhersage für 2023 liegt jetzt bei 5,5% und nicht mehr bei 3,5%. Inﬂationsprognosen EZB Quelle: URL: EuropeanCentralBank,08.09.2022.Twitter. (13.09.2022) Nicht nur die Inﬂationsprognose wurde von der EZB korrigiert, auch die Wirtschaftsprognose wurde angepasst. Für 2023 geht die Zentralbank im Basis-Szenario von einem Wachstum von 0,9% aus, im Fall einer schlechten Wirtschaftsentwicklung sieht sie eine Schrumpfung um 0,9% voraus. Wirtschaftsprognosen EZB Quelle: URL: EuropeanCentralBank,08.09.2022.Twitter. (13.09.2022) Während ExpertInnen auf der einen Seite die Logik vertreten, dass bei einem schrumpfenden Angebot (z.B. bei geringeren Energielieferungen) die Geldpolitik die Nachfrage dämpfen müsse um das Preisgleichgewicht wieder herzustellen, fürchten ÖkonomInnen auf der anderen Seite, dass die EZB bei der schwachen Wirtschaftsentwicklung nicht rechtzeitig reagiert und den Zinskurs weiter strafft.58 73

An den Kapitalmärkten gilt eine inverse Zinskurve59 als Vorbote einer Rezession. Während sich in den deutschen Bundesanleihen keine Inversion zeigt, liegen in den USA die Renditen der fünf- und sogar zweijährigen Anleihen über denen für zehnjährige. Bemerkenswert dabei ist, dass Europa viel stärker von den Folgen des Krieges betroffen ist als die USA und damit einer höheren Rezessionsgefahr ausgesetzt ist. US-Staatsanleihen 2, 5 und 10 Jahre Quelle: URL: ttps://de.tradingview.com/chart/?symbol=TVC%3AUS02Y (13.09.2022) Alexander Eberan von der Steiermärkischen Sparkasse erklärt Inverse Zinskurven als wirtschaft- lich unlogisches Szenario, das nur selten auftritt und wenn, dann nur für kurze Zeit.60 Er sieht die Zeit der Qualität und der verstärkten Diversiﬁkation gekommen und rät den Anlegern zur Beson- nenheit. Längerfristig sei wieder mit einer Senkung der Leitzinsen durch die Zentralbank zu rechnen, um der Wirtschaft unter die Arme zu greifen. 74

5. Japan folgt dem eigenen Kurs (03.11.2022) Die Europäische Zentralbank erhöhte angesichts der Rekordinﬂation der Eurozone den Leitzins Ende Oktober zum dritten Mal im Jahr 2022, von 1,25% auf 2%. Mit diesem großen Schritt will die EZB Kredite verteuern, um die Nachfrage zu bremsen und auf diese Weise hohen Teuerungsraten entgegenzuwirken. Eurozone Leitzins Quelle: URL: https://tradingeconomics.com/euro-area/interest-rate (31.10.2022) EZB-Cheﬁn Christine Lagarde rief die Regierungen der Eurozone dazu auf, sich auch weiterhin um einen Abbau ihrer Staatsschulden zu bemühen. Gleichzeitig plädierte sie auch für Hilfen für die „Schwachen“ – wenn auch „befristet und gezielt“. In ihrem Handeln folgt die EZB den sehr deutlichen Zinsanhebungen in den USA. Es wird erwar- tet, dass die Notenbank Fed bei ihrer nächsten Sitzung Anfang November eine vierte Zinserhö- hung um 0,75% beschließen wird. 75

USA Leitzins Quelle: URL: https://tradingeconomics.com/united-states/interest-rate (31.10.2022) Entgegen dem globalen Trend erteilt die Notenbank Japans, die Bank of Japan, den Zins- erhöhungen eine klare Absage. Zentralbankchef Haruhiko Kuroda erklärte nach der letzten geldpolitischen Sitzung Ende Oktober, dass die Wirtschaft bei der Erholung von der Corona- Pandemie weiterhin Unterstützung benötige. Daher werde der lockere Kurs fortgesetzt. Japan Leitzins Quelle: URL: https://tradingeconomics.com/japan/interest-rate (31.10.2022) Die Bank of Japan beließ die kurzfristigen Zinsen daher bei -0,1% und will die Rendite der zehnjährigen Staatsanleihen weiterhin bei 0 halten. Aufgrund der japanischen Geldpolitik wird die Zinsdifferenz zwischen den Währungsräumen USA und Japan absehbar zunehmen. Der japanische Yen ist wegen der Zins-Schere bereits einem massiven Wertverfall ausgesetzt. Für japanische Firmen bedeutet dies unter anderem steigende Importkosten. Öl wird beispiels- weise in Dollar abgerechnet und verteuert sich für japanische Endkunden auch durch die Schwäche des Yen. 76

Um den Sinkﬂug zu bremsen, griff die Notenbank Ende Oktober bereits zum zweiten Mal in vier Wochen mit einer Intervention am Markt ein. Der Yen reagierte prompt und stieg gegenüber dem Dollar, sank aber am nächsten Tag wieder.61 Während sich die meisten japanischen Notenbankbeobachter einig sind, dass sich die Bank of Japan bis zum Ende der Amtszeit ihres Chefs Haruhiko Kuroda Anfang April 2023 gegen den globalen Trend zu höheren Zinsen stemmt, werden nun auch Gegenstimmen laut. Devisenstratege Tohru Sasaki etwa rechnet mit einer Anhebung der oberen Grenze des Zinskor- ridors für zehnjährige Staatsanleihen (JGBs) von derzeit 0,25% auf 0,5% mit Anfang 2023. Aber auch dieser Schritt würde den Yen nur um 3-4% in die Höhe treiben, so Sasaki. Eine Serie von Zinserhöhungen in Japan ist auch aufgrund der hohen Staatsverschuldung schwer vorstellbar. Diese liegt bei 266% der Wirtschaftsleistung. Bereits 50% der Staatsschuld hat die Notenbank im Rahmen ihrer ultralockeren Geldpolitik bereits aufgekauft. Dennoch würden höhere Zinsen den Schuldendienst erhöhen. In der Eurozone liegt die Staatsverschuldung bei 95,6% des Bruttoinlandsprodukts. Staatsschulden Japan Quelle: URL: https://tradingeconomics.com/japan/government-debt-to-gdp (31.10.2022) 77

Staatsschulden Eurozone Quelle: URL: https://tradingeconomics.com/euro-area/government-debt-to-gdp (31.10.2022) Immer wieder betont Notenbankchef Kuroda, dass die wirtschaftliche Lage in Japan andauernde Niedrigzinsen rechtfertige. Tatsächlich wächst Japans Wirtschaft im zweiten Quartal 2022 um annualisierte 2,2%, blieb jedoch hinter den durchschnittlichen Marktprognosen von 2,5% zurück. Während es die Zentralbanken in den USA und der Eurozone mit ausufernder Inﬂation zu tun haben, ist der Preisanstieg in Japan moderat. Für das laufende Jahr werden 2,9% prognosti- ziert. Für 2023 wird eine Inﬂation von 1,6% erwartet, das liegt unter dem Zielwert der Notenbank von 2%. 78

1. Risiken in der Lieferkette (09.12.2021) Efﬁzienzgewinn und potenzielle Risiken in Verbindung mit den Lieferketten als Teil der Glo- balisierung waren früher hauptsächlich Themen für wissenschaftliche Studien. Auch nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011, die Auswirkungen von Unterbrechungen in den Lieferketten auf die Weltwirtschaft sichtbar machte, war noch nicht klar, wie zentral das Thema werden würde. Heute bereiten Störungen in den globalen Lieferketten politischen Entscheidungsträgern auf der ganzen Welt Sorgen, da sie zu Verknappungen führen und die Inﬂation stützen. US-Präsident Biden erließ im Februar 2021 bereits ein Dekret zur Sicherung und Stärkung der amerikanischen Lieferkette durch mehrere Bundesbehörden. Im Juni 2021 wurde ein Bericht zum Thema „Aufbau widerstandsfähiger Lieferketten, Wiederbelebung der amerikanischen Fertigung und Förderung eines breit angelegten Wachstums“ vorgelegt. Neben wichtigen Erörterungen z.B. zu den Auswirkungen, die die Abhängigkeit der Verteidigungsindustrie von importierten Einsatzgütern auf die nationale Sicherheit hat, enthält der Bericht eine besonders er- wähnenswerte Feststellung. Es ist die Tatsache, dass globale Lieferketten allerlei soziale Kosten verursacht haben. „Unser privatwirtschaftlicher und politischer Ansatz in Bezug auf die Inlands- produktion, der Efﬁzienz und niedrigen Kosten jahrelang höhere Priorität beigemessen hat als Sicherheit, Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit, hat zu Risiken in den Lieferketten geführt.“62 Auch „The Climate Choice“63, eine Software Plattform zur Dekarbonisierung von Unternehmen und ihren Lieferketten, stellte in einer Analyse fest, dass 24% der Unternehmen der Studie keine angemessenen Pläne zur Risikominderung in der Lieferkette hatten, um mit der Schwere der durch COVID-19 verursachten Unterbrechung der Lieferkette umzugehen. Mittlerweile führten 61% der Unternehmen eine Risikoanalyse durch, da sie die kritische Bedeutung des Risikomanagements für den Erfolg ihrer Geschäfte erkannten. Daron Acemoglu stellt in seinem Artikel „The Supply Chain Mess“64 fest, dass Lieferketten durchaus eine Gefahr für eine Volkswirtschaft darstellen können. Je komplexer eine Lieferkette wird, desto größer sind die wirtschaftlichen Risiken. Die Unterbre- chung eines Gliedes kann sich auf die gesamte Kette auswirken und Preise in die Höhe treiben. In einem Worst-Case-Szenario löst dies einen Dominoeffekt aus, der andere Unternehmen zu Fall und den gesamten Sektor zum Stillstand bringt. Dieses Szenario ist vergleichbar mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers 2008 und somit dem Auslöser der globalen Finanzkrise. Unternehmen kalkulieren Risiken bei der Entscheidung über den Aufbau von Lieferketten grundsätzlich ein. Dennoch gibt es wirtschaftliche Gründe, warum die Lieferketten übermäßig ausgeweitet werden. Denn es wird oft nur das eigene Risiko berücksichtigt, nicht die Risiken für andere Unternehmen oder die gesamte Wirtschaft. Dazu kommt, dass kleine Preisunterschiede, die von ausländischen Unternehmen offeriert werden, kurzfristig attraktiv sein können, während sie woanders erhebliche Kosten und Unsicherheit generieren. Ein weiterer Grund für die Überdehnung von Lieferketten ist, dass es bei der Globalisierung 81

nicht nur um den Handel mit Waren und Dienstleistungen geht, sondern auch darum, an Gewinnen zu partizipieren (rent-sharing). Daher gibt es z.B. die Möglichkeit der Verlagerung von Produktionsfaktoren ins Ausland, was die Löhne am Standort niedrig hält. Die Organisation zu Tarifverhandlungen wird erschwert, Unternehmen können sogar steuerliche Vorteile aus der Globalisierung der Lieferkette ziehen etc. Problematisch ist auch die Annahme, dass Unternehmen dazu neigen ihre Lieferketten zu globalisieren, selbst wenn dies nicht efﬁzienter ist, weil sie dadurch die ohne Gegenleistung erzielten Gewinne von den Arbeitnehmern zu den Aktionären verlagern können. Dies überdehnt nicht nur die Lieferkette, sondern verzerrt auch die Einkommensverteilung durch Drücken der Löhne, insbesondere für Arbeitnehmer mit geringen Qualiﬁkationen. Die Frage, ob hyperglobalisierte Lieferketten letzten Endes wirklich so gut für die wirtschaftliche Efﬁzienz sind, beantwortet Acemoglu mit Ja, aufgrund von Efﬁzienzsteigerungen und Kosten- senkungen für die Unternehmen. Da sich die Produktion an der Nachfrage orientiert, ist in der Bestandsverwaltung „Just-in-Case“ heute nicht mehr der gängige Standard. Vielmehr wurde diese Herangehensweise von „Just-in- Time“-Modellen65 abgelöst, bei denen Zulieferer häuﬁger kleinere Mengen an Rohstoffen liefern. Überschüssige Lagerbestände gelten heute als Gewinnhemmnis, da es erstens keine Garan- tie gibt, dass sie tatsächlich verkauft werden und da sie zweitens zu höheren Lagerkosten führen. Seit Ausbruch der Pandemie läuft der Welthandel jedoch nicht mehr reibungslos. Es gibt Staus vor Häfen, Mangel an Containern und zu wenig Lastwagenchaffeure. Sören Skou, der Chef des dänischen Logistikkonzerns Maersk, Weltmarktführer in der Con- tainerschifffahrt, beschreibt die Situation im Welthandel so: „Das ganze System ist zu einem gigantischen Flaschenhals geworden.“ Rund 600 Containerschiffe liegen derzeit weltweit vor Frachthäfen und warten darauf, gelöscht zu werden. Und auch wenn die Güter an Land sind, ist das Problem noch nicht gelöst: In vielen Ländern sorgt dann ein Mangel an Lastwagenchauffeu- ren und anderen Beschäftigten im Transportbereich für Wartezeiten.66 Der Supply Chain-Berater „Sea-Intelligence“ kommt zu dem Ergebnis, dass die globale Störung der Lieferketten in der Containerschifffahrt bis weit ins nächste Jahr dauern wird und eine Rückkehr zur vollen Normali- tät frühestens Ende 2022 erreicht werden kann.67 „The Climate Choice“ führt drei Verbesserungsvorschläge zum Risikomanagement globalen Lieferkette an.68 in der Zum einen spielt der Aufbau von Vertrauen bei Lieferanten eine große Rolle. Dies hilft den Par- teien beider Seiten, transparent zu kommunizieren. Gleichzeitig mehren sich auch gesetzliche Vorgaben in Bezug auf Transparenz. In einer Studie wurde erfasst, dass 37% der Unternehmen nicht über die negativen Auswirkungen von COVID-19 auf die Lieferkette informiert wurden, bis sie unterbrochen wurde. Des Weiteren ermutigt eine positive, transparente Einkäufer-Lieferanten-Beziehung der ersten Ebene mit ihren eigenen Lieferanten zusammenzuarbeiten. Dies führt zu einem Dominoeffekt der Transparenz und Offenlegung auf allen Ebenen der Lieferkette. Neben der Erfüllung des Kostenziels oder der kurzfristigen Sicherung der Versorgung müssen auch andere Faktoren berücksichtigt werden. Lieferanten auf allen Ebenen können dadurch Auswirkungen und Risiko- bereiche besser verstehen. 82

Zum Dritten wird die Überwachung und Abbildung der mehrstuﬁgen Lieferkette eines Unterneh- mens stark durch Technologien unterstützt. Diese Daten berechnen Risiken und rationalisieren die Kommunikation in Echtzeit. Durch den Einsatz neuer Technologien und die Bereitschaft in diese zu investieren (z.B. Crowdsourcing-Plattformen, die Daten aus einem Supply-Chain- Netzwerk sammeln um genaue Analysen zu erstellen), können fundierte Entscheidungen schnell und ﬂexibel getroffen werden. Die negativen Auswirkungen im Falle von besonderen Herausforderungen werden für alle Beteiligten reduziert. Generell sind die pandemiebedingten Störungen der globalen Lieferketten nicht nur für die USA, die die Lieferketten als Schlüssel zur künftigen wirtschaftlichen Sicherheit erkannt haben, eine Gelegenheit, eine breitere Debatte über die Wirtschaft an sich und notwendige, grundlegende Veränderungen bezüglich der Ideologie des „Shareholder Value“ zu führen. 83

2. Chinas Probleme mehren sich (20.01.2022) Chinas Coronapolitik umfasst rasches und schnelles Vorgehen, Ausgangssperren, Massentests, Kontaktverfolgung, Quarantäne und rigorose Einreisebeschränkungen. Und das sind nur die mil- deren Maßnahmen. Lügt jemand über Infektionen, verbirgt Symptome oder will der Quarantäne entgehen, so drohen Haftstrafen. Die Regierung möchte auch alle Kinder ab drei Jahren impfen lassen und übt entsprechend Druck auf die Eltern aus. Als vor wenigen Tagen der erste Omikron-Fall in Peking registriert wurde, rief der stellvertretende Chef der Pekinger Gesundheitsbehörde die Bevölkerung auf, den Kauf von Waren aus Übersee zu minimieren. Das Virus sei über einen Brief aus Kanada übertragen worden. Durch die hochansteckende Omikron-Variante des Corona-Virus scheint die strikte Null-Covid- Strategie Chinas an ihre Grenzen zu stoßen. Angesichts der bevorstehenden Olympischen Winterspiele im Februar steht Chinas Staats- führung vor einer prekären Situation. In Peking gibt es mehrere Dutzend Einrichtungen, in denen Athleten und Mitreisende aus dem Ausland untergebracht werden sollen, vollkommen abgeschirmt von der Außenwelt. Jeder der Tausenden Einreisenden könnte potentiell das Corona-Virus einschleppen. Hinzu kommt die wahrscheinlich nur unzureichende Wirkung der chinesischen Impfstoffe vor der Omikron-Variante. Die chinesischen Vakzine von Sinopharm und Sinovac funktionieren im Gegensatz zu mRNA-Impfstoffen mit vollständig intakten Viren. Der Berliner Virologe Christian Drosten attestiert diesen Impfstoffen „schlechte Wirksamkeit“. Und auch die University of Hong Kong gab am 23.12.2021 in einer Pressemitteilung bekannt, dass selbst drei Dosen des chinesi- schen Wirkstoffs Coronavac nicht genügend Antikörper produzieren, um vor einer Infektion mit Omikron zu schützen.69 Inwieweit dennoch ein schwerer Krankheitsverlauf verhindert werden kann, lässt sich nicht feststellen, weil Antikörper nur einen Teil der Immunreaktion darstellen. Gegen den chinesischen Totimpfstoff spricht aber, dass eine Anpassung an neue Varianten wie Omikron länger dauert und schwieriger ist als bei den mRNA-Impfstoffen. Ausländische Impfstoffe wie Biontech und Moderna sind in der Volksrepublik nicht zugelassen. Die zu erwartende Verstärkung der rigiden Politik zur Eindämmung der Pandemie wird sehr wahrscheinlich erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen für China und die Welt mit sich bringen. Werden in China Unternehmen stillgelegt, wachsen die negativen Folgen für die Weltwirtschaft, denn China spielt eine entscheidende Rolle im internationalen Warenverkehr. Bereits jetzt haben die coronabedingten Produktionsstopps Auswirkungen auf deutsche Unter- nehmen. Weitere Einschränkungen würden dem Außenhandel schwer zusetzen. Deutschland bezieht aus keinem Land mehr Waren als aus China. 85

Im August 2021 genügte ein einziger mit dem Coronavirus inﬁzierter Hafenarbeiter, dass die Lokalregierung einen kompletten Terminal in Ningbo schloss, dem zweitgrößten Hafen der Welt. Die Folge war ein Stau von 50 Containerschiffen und weltweit stockende Transporte. Auch derzeit sind wieder wichtige Hafenstädte durch das Aufﬂammen des Coronavirus bedroht. Shanghai und Shenzhen haben Fälle der Omikron-Variante gemeldet, nach Xi’an steht nun auch die 14 Millionen-Stadt Tianjin unweit Peking weitﬂächig unter Quarantäne, nachdem dort 40 Ansteckungsfälle registriert wurden. Teilweise gab es in den wichtigen Logistikzentren bereits Verzögerungen durch Pandemie- Präventionsmaßnahmen.70 Deutsche Unternehmen versuchen zwar nun teilweise ihre Lieferketten umzustellen, aber China, das nicht nur wichtiger Lieferant, sondern auch das zweitwichtigste Abnehmerland deutscher Produkte ist, einfach so zu ersetzen, ist schwierig. Besonders die deutsche Automobilindustrie ist auf den chinesischen Markt angewiesen. Neben Siemens und dem deutschen Automobilzulieferer Schaefﬂer und Mahle ist auch der europäische Flugzeughersteller Airbus in der Küstenstadt Tianjin angesiedelt. Volkswagen, dessen Absatz im wichtigsten Markt China infolge des Halbleitermangels ohnehin schon rapide zurückgeht, musste zwei seiner Werke in Tianjin schließen. Toyota hat den Betrieb in seinen Werken bereits am 10. Jänner 2022 eingestellt, weil von seinen Zulieferern keine Teile mehr kamen. Die Beschäftigten standen für die behördlich angeordneten Massentests an. Frachter aus allen Teilen der Erde weichen nach Shanghai aus, was Staus und tagelange Verzögerungen des Warentransports mit sich zieht. Immer neue Lockdowns in China werden nach Meinung der Experten zu erneuten gravierenden Problemen in den globalen Lieferketten führen. Die Situation des wirtschaftlichen Abwärtsdrucks verstärkte sich in China bereits Ende 2021. Chinas Wirtschaft ist im vierten Quartal des vergangenen Jahres nur um 4% gewachsen, nach- dem es schon im Sommerquartal nur zu einem Plus von 4,9% gereicht hatte. Das BIP stieg im Jahr 2021 um 8,1%. 86

BIP China jährliche Wachstumsrate Quelle: URL: https://tradingeconomics.com/china/gdp-growth-annual (18.01.2022) Chinas Notenbank wehrt sich bereits mit einer unerwarteten Zinssenkung gegen die Konjunk- turabkühlung. Erstmals seit April 2020 senkte die People’s Bank of China (PBoC) am 17. Jänner den Referenzzins für mittelfristige Darlehen an einige Finanzinstitute (MLF71) von 2,95% auf 2,85%. Damit sollen die Kreditkosten für Firmen gedrückt und so die Konjunktur insgesamt angeschoben werden. Mit der Senkung wurden etwa 200 Milliarden Yuan (27,5 Milliarden Euro) in das Bankensystem gepumpt.72 Demnächst wird eine Senkung des Leitzinses erwartet. Dann wird auch über den Referenzzins für Kredite mit einjähriger Laufzeit (LPR73) entschieden. Dieser liegt derzeit bei 3,8%. Der LPR ist an den MLF gekoppelt und wird am 20. jedes Monats festgelegt. Ein Großteil des Wachstums beläuft sich in China auf die Immobilienbranche. Das sich bereits über Monate hinziehende Schuldendrama um den Konzern Evergrande erhöht den Druck auf die Pekinger Regierung, einen Flächenbrand auf dem chinesischen Immobilien- und Finanzmarkt zu verhindern. Ein landesweiter Lockdown in China scheint nach Meinung der Experten nicht mehr unmöglich. Der Beginn der Olympischen Spiele am 4. Februar erhöht nur den Druck der Regierung, der Welt die Überlegenheit der eigenen Null-Covid-Strategie zu beweisen.74 Aufgrund der Inkompatibilität einer Null-Covid-Strategie mit einem hochinfektiösen Virus wie Omi- kron sowie der geringen Effektivität des chinesischen Corona-Impfstoffs scheint die Volksrepublik nun in eine Sackgasse zu geraten. 87

3. Keine Geschlechter-Gleichstellung in der EU (10.03.2022) „Geschlechtergerechtigkeit“ wird deﬁniert als „Gewährleistung von Fairness und Gerechtigkeit bei der Verteilung von Nutzen und Verantwortung zwischen Frauen und Männern“.75 Dies kann Gleichbehandlung oder eine Behandlung einschließen, die zwar unterschiedlich ist, aber in Bezug auf Rechte, Leistungen, Verpﬂichtungen und Chancen als gleichwertig angesehen wird. Oft wird der Begriff „Geschlechtergerechtigkeit“ fälschlich so verwendet, dass Stereotype über die Rolle von Frauen zementiert werden und sie gemäß diesen Rollen „gerecht“ behandelt werden sollen. „Gleichstellung“ der Geschlechter hingegen bedeutet, dass Interessen, Bedürfnisse und Prio- ritäten von Frauen wie von Männern unter Anerkennung der Vielfalt verschiedener Gruppen von Frauen und Männern berücksichtigt werden. Daher ist Geschlechtergleichstellung keine Frauenfrage, sondern geht beide Geschlechter an. Die Gleichstellung von Frauen und Männern wird als Menschenrechtsfrage wie auch als Vorbedingung und Indikator für eine am Menschen orientierte nachhaltige Entwicklung und Demokratie betrachtet.76 Es ist auch in der Europäischen Union noch ein langer Weg zu gehen, bis die volle Gleichstellung von Frauen und Männern erreicht ist. Die Gleichheit von Frauen und Männern ist ein gemeinsamer Wert der Europäischen Union und im Vertrag von Lissabon, der am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist, verankert. Laut Vertrag über die EU zählt die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter zu den Aufgaben der Union (Artikel 3). Die EU wirkt bei allen Tätigkeiten darauf hin, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Frauen und Männern zu fördern (Vertrag über die Arbeitsweise der EU, Artikel 8).77 Das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen78 (European Institute for Gender Equality) erstellt jährlich einen Gleichstellungsindex (Gender Equality Index). Dieser wird aus dem Abschneiden der EU-Länder in sechs Kategorien gebildet: Arbeit, Geld, Bildung, Zeit, Macht und Gesundheit. Hinzu kommen Faktoren wie z.B. Gewalt gegen Frauen. Der Gleichstellungsindex 202179 zeigt Deutschland mit 68,6 von 100 Punkten auf Platz 10, Öster- reich liegt mit 68 Punkten auf Platz 11. An der Spitze stehen die Länder Schweden (83,9 Punkte), Dänemark (77,8 Punkte) und die Niederlande (75,9 Punkte). Schlusslicht im Gleichstellungs- ranking bilden Rumänien (54,5 Punkte), Ungarn (53,4 Punkte) und Griechenland (52,5 Punkte).80 Der Indexwert für die gesamte EU zeigt, dass die Entwicklung sehr langsam voranschreitet. Im Gleichstellungsindex 2015 waren es 64,4 von 100 Punkten für die EU, 2021 sind es lediglich 3,6 Punkte mehr. Seit 2020 verbesserte sich der Indexwert für die EU nur um 0,6 Punkte. Die 89

COVID-19-Pandemie bedroht jedoch auch diesen minimalen Fortschritt. Geschlechter-Gleichstellung in der EU nach dem Gleichstellungsindex 2021 Quelle: URL: https://de.statista.com/ (08.03.2022) Der größte Fortschritt bei der Gleichstellung zwischen 2010 und 2019 wurde im Bereich „Macht“ erzielt und resultiert vor allem aus der zunehmenden Balance der Geschlechter in Führungs- gremien in Unternehmen und Politik. Seit 2010 hat sich der Index um 13,1 Punkte verbessert, alleine zwischen 2018 und 2019 um 1,9 Punkte. Diese Verbesserung ist für zwei Drittel des Fortschritts im Gleichstellungsindex seit 2010 verantwortlich. In anderen Bereichen ist der Fortschritt viel langsamer und die Auswirkungen auf den Index da- her viel kleiner. Im Bereich „Zeit“ ist der Beitrag langfristig sogar negativ. Das enorme Wachstum im Bereich unbezahlte Pﬂege während der COVID-19-Krise – speziell durch Frauen – zeigt die noch immer andauernde Geschlechterungleichheit in den Haushalten. Der Wert von 64,9 Punkten zeigt traditionelle und festgesetzte Ungleichheit zwischen Frauen und Männern im Bereich bezahlte und unbezahlte Arbeit und Erholung. Hausarbeit ist die am meisten ungleich geteilte unbezahlte Arbeit, gefolgt von Kindererziehung und Pﬂege von älteren Menschen, Menschen mit Behinderung oder chronischen Krankheiten. 78% der Frauen in der EU bringen täglich 1 Stunde für die Hausarbeit auf, im Gegensatz zu 32% der Männer. Auch hier trug die Pandemie zu einer Verschärfung der Situation bei. Die Errungenschaften in der Gleichstellung differieren erheblich in den verschiedenen Ländern. Obwohl sich der EU-Indexwert zwischen 2010 und 2019 generell erhöhte, ﬂuktuierte der Wert in manchen Mitgliedsstaaten und die Ungleichheit zwischen den Mitgliedsländern war von Jahr zu Jahr unterschiedlich. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die nationalen Rückmeldungen zum Thema Gleichstellung in ökonomischen und politischen Führungsebenen variierten. Da die Pandemie die Mitgliedsstaaten in unterschiedlichem Maße betroffen hat, gab es im Bereich Gleichstellung große Unterschiede bis hin zu Rückschritten in manchen Ländern. Mit einem Indexwert von 71,6 Punkten, einem Zuwachs von nur 0,2 Punkten seit 2018, signa- lisiert die Kategorie „Arbeit“ einen Rückschlag am EU-Arbeitsmarkt. Fortschritte haben sich verlangsamt, die Geschlechtertrennung am Arbeitsmarkt geht weiter. Dies zeigt sich vor allem 90

beim besonders niedrigen und fast statischen Wert von 61,3 Punkten für die Unterkategorie „Segregation and quality at work“ im Jahr 2019. Quelle: Gender Equality Index 2021 Mit einem Indexwert von 82,4 Punkten hat sich die Kategorie „Geld“ etwas verbessert. Der Wert stieg seit 2010 um 3,3 Punkte. Der Aufwärtstrend, der vor allem durch „Zugang zu ﬁnanziellen Ressourcen“ angetrieben wurde, wurde durch einen Rückschritt von +0,2 Punkten in der Unterkategorie „wirtschaftliche Situation“ seit 2018 stark gebremst. Quelle: URL: https://eige.europa.eu/publications/gender-equality-index-2021-report (08.03.2022) Die Einkommensungleichheit beim durchschnittlichen Nettoeinkommen stagniert in der EU seit 2014. Diese wird durch die COVID-19-Pandemie aufgrund des Ungleichgewichts von bezahlter 91

und unbezahlter Arbeit von Frauen und Männern zusätzlich verschärft. Mehr Frauen als Männer haben in der EU ihre Einkommen verloren, da sie Pﬂegepﬂichten, inklusive Home Schooling, nachgekommen sind. Ohne entsprechende Sozialhilfen wird auch nach der Pandemie die Verarmung von Frauen weiter zunehmen. In der Kategorie „Bildung“ liegt die EU bei einem Indexwert von 62,7 Punkten, derselbe Wert wie im Gleichstellungsindex 2020, seit 2010 mit einem Zuwachs von lediglich 2,9 Punkten. Obwohl sich das Bildungsniveau von jungen Frauen und Männern erhöht, wird der Fortschritt in dieser Kategorie durch die Geschlechtertrennung bei höherer Bildung und von der geringen Bereitschaft zur Teilnahme an lebensbegleitendem Lernen gebremst. Der thematische Fokus des Gleichstellungsindex 2021 liegt auf dem Thema Gesundheit. Obwohl die Kategorie „Gesundheit“ mit 87,8 Punkten den höchsten Wert aller sechs Kategorien aufweist, gab es mit einer Erhöhung von 1,1 Punkten seit 2010 nur minimalen Fortschritt in dem Bereich. Seit 2020 gab es gar keinen Fortschritt. Zugang zur Gesundheitsversorgung ist in der EU immer noch nicht selbstverständlich. Mehr als 3% der Frauen und fast 3% der Männer berichten von ungenügender medizinischer Versorgung, besonders von Menschen mit Behinderung, Alleinerziehern und bestimmten Gruppen von Frauen (z.B. niedriges Bildungsniveau, älter als 65 Jahre). Während die vollen Auswirkungen der Pandemie auf die Gesundheit der Menschen noch im Un- klaren liegt, sind sie sicher weitreichend. Aufgrund der hohen Zahl an COVID-19-Sterbefällen und Erkrankungen ﬁel die Lebenserwartung im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 in den meisten EU- Ländern. Allen voran stehen hier die Länder Polen und Litauen (beide -1,5 Jahre) und Rumänien (-1,4 Jahre). Auch auf die Geburtenrate hat die Pandemie Einﬂuss. Sie sank Ende des Jahres 2020 und im Frühjahr 2021 in den Ländern, die am meisten von COVID-19 betroffen waren. 92

4. Die Klimawende reicht nicht mehr (17.03.2022) Der jüngst veröffentlichte Klimareport 2022 des IPCC (International Panel of Climate Change, Weltklimarat) mit Fokus auf Auswirkungen der Erderhitzung auf Menschen und Biodiversität stellt dem Zustand unseres Planeten ein schlechtes Zeugnis aus. UN-Generalsekretär Antonio Guterres wirft den Staaten sogar „kriminelles“ Versagen beim Klimaschutz vor, da die weltgrößten Emittenten von Treibhausgasen sich der „Brandstiftung an unserem einzigen Zuhause“ schuldig machten.81 Der zweite Teil des 6. Sachstandsbericht des IPCC - der 5. Bericht wurde 2014/2015 veröf- fentlicht - ist vor allem ein Weckruf. Bei jeder weiteren Verzögerung bei Maßnahmen für den Klimaschutz und die Anpassung an den Klimawandel werde sich das „Fenster der Gelegenheit schließen, eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft für alle zu sichern“. Bereits die Hälfte der Menschheit ist durch den Klimawandel „hochgradig gefährdet“.82 Die globale Erwärmung wirkt mit anderen Herausforderungen zusammen, die die Menschheit und ihr Wohlergehen sowie die Ökosysteme und ihre Biodiversität beeinﬂussen, so der Welt- klimarat. Dazu gehören die Zerstörung von Lebensräumen, wachsende Weltbevölkerung, die Migration der Menschen in Städte, zu hoher Konsum, wachsende Armut und Ungleichheit, Umweltverschmutzung, Überﬁschung und jüngst die COVID-19-Pandemie. Krankheitsrisiken nehmen weiter zu, aber auch die Möglichkeiten der Natur und der Menschen sich an den Klimawandel anzupassen wird durch das Zusammenwirken der Faktoren reduziert. Schon heute liegt die Erderwärmung bei 1,1 Grad. Viele damit zusammenhängende Verände- rungen sind auch dann nicht mehr abwendbar, wenn die Welt sofort eine scharfe klimapolitische Kehrtwende vollziehen würde. Der Klimawandel bedroht durch Hitzewellen, Überschwemmungen, Dürren und den Anstieg des Meeresspiegels zunehmend die Lebensgrundlagen und die Ernährungssicherheit von Milliarden von Menschen. Diese soziale Instabilität könnte zu millionenfacher Migration führen. Während im globalen Süden derartige Katastrophen schon heute häuﬁger vorkommen, zeigt etwa die Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und in Rheinland-Pfalz im Jahr 2021, dass der Klimawandel auch Mitteleuropa unmittelbar betrifft und enorme wirtschaftliche Belastungen auf die einzelnen Länder zukommen werden. Mit jedem Zehntelgrad Erwärmung werden diese zunehmen. Der Klimavertrag von Paris gibt vor, den CO2-Ausstoß insgesamt so weit zurückzufahren, dass die Erderwärmung bis 2050 möglichst unter 1,5 Grad bleibt. Bereits im August 2021 erschien der erste Teil des 6. Klimaberichts des IPCC mit Schwerpunkt auf den naturwissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels mit der alarmierenden Aussage, dass bei derzeitiger Entwicklung die Erde im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter schon gegen 2030 um 1,5 Grad Celsius 93

wärmer sein wird. Im Jahr 2018 prognostizierte man dieses Szenario noch für 2040 – zehn Jahre später. Ohne sofortige und drastische Reduzierung der Emissionen droht das Szenario eines zunehmenden Verlusts von Menschenleben, biologischer Vielfalt und Infrastruktur. Der Schlüssel liegt in der Vereinigung der Sicht auf Biodiversität und Klimaschutz, so der Bericht. Die drei Systeme Klima, Ökosystem und Artenvielfalt sowie menschliche Gesellschaft stehen in Wechselwirkung zueinander. Dies dient als Grundlage der aus dem Klimawandel entstehenden Risiken und scheint bei der Politik noch nicht richtig angekommen zu sein. Veränderungen, Krisen und Probleme in einem der drei Systeme bedingen Effekte in anderen Bereichen. So haben Menschen mit geringem ökonomischem Spielraum eine außergewöhnlich hohe Vulnerabilität in mehreren der genannten Dimensionen. Sie leben häuﬁg in einer besonders geschädigten Umwelt. Die Ausbeutung der Ökosysteme erhöht dessen Empﬁndlichkeit gegenüber der Klimakrise. Im Verlauf der Erdgeschichte hat sich gezeigt, dass die Natur sich dem Klimawandel anpasst. Das Überschreiten der Anpassungsgrenzen hat jedoch immer ein Massensterben zur Folge. Der Bericht des IPCC deﬁniert Rahmenbedingungen, wie diese Abwärtsspirale beendet werden kann. Die Lösung für eine lebenswerte Zukunft und zur Anpassung an die Klimakrise sind der Schutz und die Stärkung der Natur. Derzeit überschreiten die oben genannten Katastrophen wie Hitzewellen, Dürren und Über- schwemmungen, bereits die Toleranzschwelle von Pﬂanzen und Tieren und führen zu einem Massensterben von Bäumen und Korallen, so der Weltklimarat. Dadurch sind Millionen von Menschen vor allem in Afrika, Asien, Mittel- und Südamerika sowie auf kleinen Inseln einer akuten Nahrungsmittel- und Wasserversorgungsunsicherheit ausgesetzt. Quelle: URL: https://report.ipcc.ch/ar6wg2/pdf/IPCC_AR6_WGII_FactSheet_Europe.pdf (15.03.2022) Auch in Europa sind natürliche und menschliche Systeme bereits beeinträchtigt. Vier Schlüs- selrisiken wurden für den Kontinent ermittelt: Hitze, daraus resultierende erhöhte Sterblichkeit, 94

Wasserknappheit und Überschwemmungen. Dazu liefert der IPCC die jeweiligen Anpassungs- optionen. Ab einer globalen Erderhitzung von 3 Grad gehen die Forschenden davon aus, dass selbst bei hohen Anpassungsraten für viele Sektoren in Europa ernste Risiken bestehen bleiben. Die Zahl der Todesfälle und die Zahl der durch Hitzestress gefährdeten Menschen wird demnach um das Zwei- bis Dreifache im Vergleich zu einer Erwärmung von 1,5 Grad steigen. Was den Hitze- und Trockenheitsstress für Nutzpﬂanzen betrifft, so werden für die meisten euro- päischen Gebiete mit hoher Wahrscheinlichkeit beträchtliche Verluste in der landwirtschaftlichen Produktion prognostiziert. Die Bewässerung als wirksame Anpassungsoption wird von dem dritten Schlüsselrisiko, der Wasserknappheit, torpediert. Bereits bei einer Erderwärmung um zwei Grad werde in Südeuropa mehr als ein Drittel der Bevölkerung Mangel leiden. Für West-, Mittel- und Südeuropa und für viele Städte wird das Risiko der Wasserknappheit auch bei unter drei Grad stark zunehmen. Die ﬁnanziellen Schadenssummen können sich bei drei Grad Erderhitzung durch das Risiko für Überschwemmungen und einen Meeresspiegelanstieg in Europa verdoppeln. Ebenso wird sich die Zahl der von Niederschlägen und Flussüberschwemmungen betroffenen Menschen verdoppeln. Die Überschwemmungsschäden an den Küsten werden höchstwahrscheinlich bis Ende des 21. Jahrhunderts um das Zehnfache zunehmen. Bei den derzeitigen Maßnahmen zur Anpassung und Minderung des Problems werden diese Prognosen sogar noch früher zutreffen. Als Anpassungsoption wird als Reaktion auf die Hitze eine Verhaltensänderung in Kombination mit baulichen Maßnahmen genannt. Neben der Bewässerung in der Landwirtschaft zählen Änderungen der Anbaumethoden dazu. Der Wasserknappheit könne mit Efﬁzienzsteigerung bei Nutzung, Wasserspeicherung und Frühwarnsystemen begegnet werden. Frühwarnsysteme werden auch als Optionen bei Überschwemmungen genannt, aber auch Landnutzungsänderungen und kontrollierter Rückzug aus gefährdeten Gebieten. Jedoch sind die begrenzten Ressourcen und das mangelnde Engagement des Privatsektors und der Bürger und Bürgerinnen die Haupthindernisse zur Umsetzung. Weiters ﬁndet eine unzurei- chende Mobilisierung von Finanzmitteln statt, es fehlt politische Führung und das Bewusstsein für die Dringlichkeit scheint gering zu sein, so der Bericht. Die meisten Anpassungsoptionen hängen zudem von begrenzten Wasser- und Landressourcen ab, daher könnten mit hoher Wahrscheinlichkeit Zielkonﬂikte die Folge sein. Der dritte Teil des 6. IPCC-Sachstandsberichts des Weltklimarats soll Anfang April 2022 veröf- fentlicht werden und sich noch stärker auf Möglichkeiten zur Minderung des Klimawandels kon- zentrieren. 95

5. Europa rüstet auf (31.03.2022) Schon vor dem Krieg in der Ukraine hat Europa begonnen aufzurüsten. Bereits seit Jahren wird in europäischen Ländern mehr Geld für Waffen und Kampfﬂugzeuge ausgegeben. Zu diesem Ergebnis kommt der neue Bericht des Friedensforschungsinstituts SIPRI83. Das unabhängige, schwedische Institut veröffentlicht regelmäßig Berichte zu den Themen Konﬂikte, Aufrüstung, Waffenkontrolle und Abrüstung. Quelle: Sipri Yearbook 2021 URL: https://www.sipri.org/sites/default/ﬁles/2021-06/sipri_yb21_ summary_en_v2_0.pdf (29.03.2022) Der globale Waffenhandel ging zuletzt leicht zurück bzw. stagniert auf hohem Niveau, aber in verschiedenen Regionen der Welt, wie zum Beispiel in Europa, wird gefährlich aufgerüstet. In den Jahren 2017 bis 2021 ging der globale Handelsumfang im Vergleich zu den fünf Jahren davor um 4,6% zurück. Verglichen mit den Jahren 2007 bis 2011 ergibt sich allerdings ein Plus von 3,9%. Die Rüstungsimporte nach Europa stiegen zwischen 2017 und 2021 um 19% im Vergleich zu den fünf Jahren davor. Europa hat somit den höchsten Zuwachs weltweit und ist für 13% der weltweiten Waffentransfers verantwortlich. Im SIPRI-Bericht wird die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den meisten europäischen Staaten und Russland zumindest teilweise als Antrieb für den Waffenkauf genannt.84 Die USA, mit einem Weltmarktanteil von 39% immer noch der weltweit größte Waffenexporteur, steigerten ebenso wie Frankreich ihre Rüstungsexporte beträchtlich, während China, Russland 97

und Deutschland weniger Waffen ins Ausland verkauften. Im Zeitraum 2017 – 2021 wuchsen die Rüstungsexporte der USA um 14% im Vergleich zum vorherigen Fünfjahreszeitraum. Die deutschen Ausfuhren sanken um 19%. Mit einem Welt- marktanteil von 4,5% belegt Deutschland hinter den USA, Russland, Frankreich und China den fünften Platz im letzten Bericht. Gemeinsam stehen diese fünf Länder für 77% aller globalen Rüstungslieferungen der vergangenen fünf Jahre. Abnehmer der Rüstungslieferungen waren Asien-Ozeanien (43%), der Nahe Osten (32%) und Europa (13%). Die fünf größten Waffenimporteure waren Indien, Saudi-Arabien, Ägypten, Australien und China. Die Waffeneinfuhren in die Ukraine machten laut dem Bericht des SIPRI von 2017 bis 2021 nur 0,1% der gesamten weltweiten Waffenimporte aus. Die „eher politische als militärische Bedeutung“ dieser Waffenlieferungen hängt mit den Kämpfen der Ukraine gegen pro-russische Separatisten im Osten des Landes zusammen, nachdem Russland die Halbinsel Krim 2014 nahezu widerstandslos annektiert hatte. Zum Einsatz kamen dabei von ukrainischer Seite her Waffen, die hauptsächlich aus der Sowjetzeit stammen. Begründet wird der geringe Umfang der Waffentransfers an die Ukraine durch die begrenzten ﬁnanziellen Ressourcen Kiews und die eigene Fähigkeit zur Waffenproduktion. Bis Februar 2022 hatten auch einige der größten Waffenexporteure ihre Lieferungen in die Ukraine eingeschränkt, da sie befürchteten, dass dies zur Eskalation des Konﬂikts beitragen könnte. Seit am 24. Februar der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, hat sich die Situation verändert. Mehrere Länder unterstützen Kiew seither mit Waffenlieferungen. Während Waffenlieferungen in Krisengebiete in der deutschen Politik bis auf wenige Ausnahmen bislang ein Tabu waren, markiert der Ukrainekrieg nun eine Wende. Bundeskanzler Olaf Scholz sieht es als Verpﬂichtung, die Ukraine mit Waffenlieferungen zu unterstützen: Panzerfäuste, Haubitzen, Fliegerfaust und Flugabwehrwaffen werden der Ukraine zur Verfügung gestellt, wenn auch die Regierung bis dato vor allem bei der Genehmigung der Waffenlieferungen etwas zögerlich agiert. Die Europäische Union, einst als Projekt für den Frieden gegründet und 2012 sogar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, sieht sich nun gezwungen, auch eine Militärmacht zu wer- den. Am 11. März 2022 beschlossen die Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedsstaaten, „entschlossen mehr und besser in die Verteidigungsfähigkeit zu investieren“ und „die Verteidi- gungsausgaben in der Union erheblich zu erhöhen“. Bisher war die NATO für die militärische Sicherheit der EU zuständig. Der reguläre EU-Vertrag sieht keine Verpﬂichtung zur Bezahlung von „Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungs- politischen Bezügen“ vor. Im Jahr 2004 wurden EU-Mittel zur Gründung der European Defense Agency (EDA) zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie genützt, wobei deren Mit- glieder seither lediglich eine Milliarde Euro für Rüstungsforschung an die Industrie verteilte.85 Mit der russischen Besatzung und Annexion der Krim im Jahr 2014 und unter dem Druck aus Washington wurde es für die EU-Regierungen notwendig, ihre Streitkräfte zu koordinieren. Im November 2016 wurde der Europäische Verteidigungsfonds (EVF) eingerichtet. Seitdem rüstet die EU langsam aber stetig auf. Zunächst wurden 590 Millionen Euro aus dem regulären Forschungsbudget für die Waffenentwicklung abgezweigt. Für die Haushaltsperiode 98

bis 2027 richteten die EU-Regierungen den EVF mit knapp acht Milliarden Euro ein. Ein weiterer Fonds stellt 1,7 Milliarden Euro bereit, um grenzüberschreitende Transportkapazitäten für Europas nationale Streitkräfte zu schaffen. Parallel dazu gründeten die EU-Staaten 2017 die Organisation zur „Ständigen strukturierten Zu- sammenarbeit“ (PESCO) für große Rüstungsprojekte. Kosten im zweistelligen Milliardenbereich gehen an die Entwicklung eines gemeinsamen Funksystems, eines europäischen Kampfhub- schraubers oder einer europäischen Kampfdrohne. Die genaue Summe der dafür verwendeten Steuergelder lässt sich nicht einsehen, da die beteiligten Unternehmen die Ausgaben direkt den nationalen Regierungen in Rechnung stellen.86 Durch das Fehlen einer Vergemeinschaftung der Sicherheitspolitik im EU-Vertrag bedarf es bei sämtlichen Entscheidungen der Zustimmung aller 27 nationalen Regierungen mit höchst unterschiedlichen Interessen. Die großen Rüstungskonzerne in den Mitgliedsländern Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien streichen den größten Teil der Fördergelder ein. Quelle: Der Tagesspiegel In den Aktienkursen der oben genannten Unternehmen spiegelt sich die Situation. 99

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Eine „Rüstungsunion des alten Europa, also Spanien, Italien, Frankreich, Niederlande und Belgien“ hält der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze jedoch durchaus für möglich. Als europäische Säule der NATO könnten die beteiligten Staaten mit einem Budget von 150 Milliarden USD im Jahr ihre Armeen zusammenführen. Das Budget entspräche dem, was diese Staaten bereits jetzt für ihr Militär ausgeben. Noch entscheidet sich die Politik in der EU für den nationalen Weg beim Thema Sicherheit. Der Weg zur Militärmacht EU ist noch weit. Die Friedensforscher vom SIPRI gehen davon aus, dass die europäischen Staaten ihre Rüstungsimporte auch in den kommenden zehn Jahren deutlich steigern werden. 101

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6. Militärausgaben wie noch nie (28.04.2022) Das Friedensforschungsinstitut SIPRI veröffentlichte am 25. April einen Bericht zu den weltweiten Militärausgaben87, die im Jahr 2021 ein Rekordniveau erreicht haben. Das siebte Mal in Folge stiegen die weltweiten Verteidigungsausgaben (inﬂationsbereinigt um 0,7% seit 2020) und überschritten damit die Marke von 2 Billionen USD (2.113 Milliarden USD). Die fünf Länder mit den höchsten Ausgaben waren 2021 die USA, China, Indien, Großbri- tannien und Russland. Gemeinsam sind sie für 62% der globalen Militärausgaben verantwortlich. Weltweite Rüstungsausgaben nach Region Quelle: SIPRI An der Spitze stehen bei den Ausgaben die USA, die rund 800 Milliarden USD in Verteidigung in- vestierten. Damit beträgt der US-amerikanische Anteil an den globalen Rüstungsausgaben 38%, so viel wie die Länder auf Platz 2-10 zusammen. Gleichzeitig sank der Anteil der USA an den glo- balen Rüstungsausgaben im Vergleich zum Vorjahr um 1%, denn Staaten wie China und Indien steigern ihren Anteil seit Jahren. 103

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Anteil der 15 Länder mit den höchsten Militärausgaben an den Ausgaben weltweit Quelle: URL: https://www.sipri.org/sites/default/ﬁles/2022-04/fs_2204_milex_2021_0.pdf (26.04.2022) China gab 2021 geschätzte 293 Milliarden USD für das Militär aus. Das ist ein Anstieg um 4,7% gegenüber dem Jahr 2020 und ein Anstieg von 72% gegenüber 2012. Seit 27 Jahren steigen Chinas Ausgaben, der längste ununterbrochene Anstieg aller von SIPRI erfassten Länder. Dies ist auch ein Treiber für Japans und Australiens Militärausgaben. In beiden Ländern stiegen sie beträchtlich: Japan fügte 7 Milliarden USD zum Budget dazu, der größte Anstieg seit 1972. Australien erhöhte das Verteidigungsbudget 2021 um 4% (31,8 Milliarden USD). Die Militärausgaben Russlands stiegen um 2,9% im Vergleich zum Vorjahr. Somit gibt die russische Regierung 65,9 Milliarden USD für ihre Verteidigung aus, was 4,1% des Bruttoinland- sprodukts ausmacht. SIPRI-Aufrüstungsexperte Diego Lopes da Silva, bemerkt, dass das viel höher als der Weltdurchschnitt sei. Die Militärausgaben der Ukraine sind seit der Annexion der Krim 2014 um 72% gestiegen. Im Jahr 2021 gingen die Ausgaben zwar um über 8% auf 5,6 Milliarden Euro zurück, machten aber immer noch 3,2% des ukrainischen BIP aus. In Osteuropa wurden die Militärausgaben im Jahr 2021 um 2,3% auf 76,3 Milliarden USD aufgestockt. Zwischen 2012 und 2021 wuchsen die Ausgaben um 15%. Verantwortlich dafür 104

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sind in erster Linie die hohen Ausgaben Russlands. Der drittgrößte Investor in die Aufrüstung in Zentral- und Westeuropa ist in Deutschland und liegt weltweit auf Rang 7. Im Jahr 2021 wurden 56 Milliarden USD für die Rüstung ausgegeben, das sind 1,3% des BIP. Durch die Inﬂation gingen die Ausgaben seit 2020 um 1,4% zurück. Allerdings dürften Deutschlands Militärausgaben ab 2022 deutlich steigen. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte im März als Antwort auf den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine ein „Sondervermögen für die Bundeswehr“ in Höhe von 100 Milliarden Euro angekündigt. Damit würde Deutschland das von der Nato ausgegebene Ziel von Verteidigungsausgaben in Höhe von mindestens 2% des BIP in den kommenden Jahren überschreiten. Auch weitere NATO-Staaten erhöhten ihre Ausgaben. Acht Mitglieder des Verteidigungsbündnis- ses haben die angestrebten 2% des BIP an Militärausgaben erreicht. Erwartet wird angesichts des Ukraine-Krieges ein weiterer Anstieg in Europa. 105

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7. Neue Verhältnisse auf der Welt (12.05.2022) Der so lange geträumte Traum eines geeinten Europas von Portugal bis Russland ist deﬁnitiv ausgeträumt. Der Ukrainekrieg gebietet der Globalisierung Einhalt und teilt die Welt in neue ökonomische Machtblöcke. Es geht um eine geopolitische und weltwirtschaftliche Zeitenwende, die der Ukrainekrieg markiert. Die Grenzen bilden vor allem die Weltanschauungen der Großmächte. Russland und China als Autokratien stehen gegen die demokratische EU und USA. Dazwischen gibt es eine Vielzahl von Staaten, die oft zum Spielball der Interessen werden. Ein Zeichen der neuerlichen Spaltung der Welt in Machtblöcke ist etwa das Buhlen des Westens und auf der anderen Seite Russlands um die Gunst Indiens. Die Regierung in Neu-Delhi ruft zwar zum Ende der Kämpfe auf, nennt den Aggressor jedoch nicht beim Namen. Premierminister Narendra Modi ist derzeit ein international gefragter Gesprächspartner. Bereits seit einigen Jahren zeichnet sich ein Übergang von einer regelorientierten zu einer machtorientierten Weltordnung ab. Der Transformationsindex88 der Bertelsmann-Stiftung (BTI) verzeichnet erstmals seit 2004 mehr autokratische als demokratische Staaten auf der Welt. Von 137 untersuchten Ländern sind nur noch 67 Demokratien, die Zahl der Autokratien steigt auf 70. Die Pandemie wurde von autokratischen Herrschern genutzt, um Grundrechte weiter zu beschneiden und Kritik an der Regierung zu unterdrücken. Korruption, Klientelismus und Miss- management der etablierten Eliten verhindern wirtschaftliche Entwicklung und soziale Teilhabe.89 Politische Transformation gemäß BTI Quelle: URL: https://bti-project.org/de/?&d=D&cb=00000 (10.05.2022) Auch die Ergebnisse der britischen Denkfabrik Economist Intelligence Unit (EIU) decken sich mit 107

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den Ergebnissen der Bertelsmann-Studie. Gemäß EIU leben nur rund 8,4% der Weltbevölkerung in vollständig demokratischen Staaten und mehr als ein Drittel der Menschen werden von autoritären Regimen regiert. Nicht erst mit Beginn des Ukrainekriegs müssen auch Handelsströme und sonstige Wirtschafts- beziehungen entlang ideologischer Feldlinien ausgerichtet werden. Drastisches Beispiel sind die Sanktionen gegenüber Russland. Für die Zeit davor können als Beispiel die Handelsbeschrän- kungen der USA gegenüber Hightech-Produkten aus China genannt werden. Die deutsche Tageszeitung Handelsblatt ließ das Forschungsinstitut Prognos Berechnungen dazu anstellen, was es aus deutscher Sicht bedeuten würde, wenn ein freier wirtschaftlicher Austausch nur noch innerhalb verbündeter Machtblöcke möglich wäre.90 In Deutschland, das wie kein anderer Staat (neben den USA) für ein Geschäftsmodell steht, das auf freiem Welthandel basiert, hängen 8,4 Millionen Arbeitsplätze am Außenhandel. Prognos teilte die Welt in vier Machtblöcke: Europa, Amerika, die autoritären Regime China und Russland nebst Vasallenstaaten wie Belarus sowie Afrika und die blockfreien Staaten Asiens, zu denen Indien ebenso zählt wie Australien und Japan. Folgende ökonomische Kernaussagen zeichneten sich ab: • Deutschlands Wohlstand hängt größtenteils am freien Warenaustausch innerhalb Europas (ohne Russland und Belarus), daraus ergeben sich 56% der Bruttowertschöpfung des Aus- landsgeschäfts. • Russland ist für Deutschland ausschließlich als Rohstofﬂieferant relevant, nicht als Absatz- markt oder Investitionsstandort. • China ist als Handelspartner für Deutschland inzwischen ähnlich wichtig wie die USA. Ei- ne Million Arbeitsplätze hängen am Chinahandel. Der China-Block steht für ein Drittel der deutschen KFZ-Exporte, umgekehrt stammen 45% der in Deutschland verkauften Textilien aus China. • Als einziger Block außerhalb Europas ist für Deutschland die USA nicht nur als Handels- partner, sondern auch bei Forschung und Investitionen relevant. An 32% aller grenzüber- schreitenden Forschungsprojekte und Patentanmeldungen in Deutschland sind Amerikaner beteiligt. Deutschlands wichtigste Wirtschaftspartner sind also auch seine engsten politischen Verbün- deten. Findet sich Ersatz für die russischen Rohstofﬂieferungen und bleiben die Beziehungen zu den europäischen und US-amerikanischen Partnern intakt, sind die Wohlstandsverluste für Deutschland verkraftbar. Für China ist es aus wirtschaftlicher Sicht ein Balanceakt. Während die Volksrepublik kein Interesse daran haben dürfte, den Handel mit dem Westen abbrechen zu lassen, ist sie auch auf Importe von Energierohstoffen und Agrarprodukten angewiesen. Ein Teil davon ist etwa ein Vertrag über eine neue Pipeline namens „Kraft Sibirien 2“ mit dem russischen Staatskonzern Gazprom. Seit der russischen Annexion der Krim hat sich der bilaterale Handel zwischen Russland und China verdoppelt. Das Handelsvolumen mit Peking soll bis 2024 von derzeit 174 Milliarden USD auf 200 Milliarden USD gesteigert werden.91 108

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Nach wie vor sind jedoch die USA und die EU die weitaus wichtigeren Handelspartner für die Volksrepublik. Nicht zuletzt deswegen achtet China sorgfältig darauf, Russland nicht allzu offen zu schützen. Dennoch scheint es eine chinesisch-russische Annäherung zu geben. China ist es gelungen, die wichtigsten Schwellenländer (Emerging Markets) dazu zu bringen, sich im Ukrainekrieg neutral zu verhalten und Russland nicht zu kritisieren. Seit Jahren bemüht sich China um die Anbindung der Staaten Asiens, Afrikas und Südamerikas als Rohstofﬂieferanten und Absatzmärkte. Südamerika wird aber auch von den USA umworben. Das US-Außenministerium bemüht sich zum Beispiel verstärkt, Brasiliens rechtsnationalen Präsidenten Bolsonaro zur Teilnahme am Summit of the Americas im Juni 2022 in Los Angeles zu bewegen. Angesichts der zunehmenden Barrieren zwischen den Machtblöcken sieht Ökonom Kenneth Rogoff sogar einen „perfekten Sturm“ für die Weltwirtschaft aufziehen.92 Im weiteren Jahres- verlauf könnten Europa, China und die USA zur selben Zeit einen konjunkturellen Abschwung erleben. Gründe für die Rezessionen sieht er im zukünftigen Importstopp Deutschlands von russischem Öl und Gas, in dem drakonischen Covid-19-Lockdown Chinas und in der stark steigenden Inﬂation in den USA. Das ohnehin schwache Europa trifft der Krieg besonders, so Rogoff. Dazu kommt, dass der Westen im Moment zwar gegen Russland geeint scheint, der Schein aber trügen könnte. So ist etwa der frisch gewählte serbische Präsident Vuˇci´c pro-russisch eingestellt. Und auch die USA mussten zum Beispiel intervenieren, um die Vereinigten Arabischen Emi-rate zu einer klaren Verurteilung der russischen Invasion zu bringen. Bei der UNO-Vollversammlung im März 2022 verurteilten 141 Staaten den russischen Angriffs- krieg (nur Russland, Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien stimmten dagegen), allerdings enthielten sich 38 Länder der Stimme (darunter China, Indien und Südafrika). Diese 38 Länder repräsentieren mehr als die Hälfte der 7,9 Milliarden Menschen auf der Welt.93 Der westliche Schulterschluss ist also keinesfalls in Stein gemeißelt. 109

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8. Ist die Globalisierung am Ende? (19.05.2022) Die Krisen der letzten Zeit zeigten die wirtschaftlichen Abhängigkeiten Europas auf und gefähr- deten Rohstoffmärkte und Lieferketten weltweit. Viele Experten sprechen von einem Ende der Globalisierung, deren 30 glorreiche Jahre vorbei seien94. Sogar von Deglobalisierung95 ist die Rede. Wirtschaftliche Globalisierung ist die Vernetzung der Weltwirtschaft durch Handel. Nahezu alle Menschen auf der Welt wurden bisher davon beeinﬂusst. Ihre Verfechter sehen darin die Lösung des Armutsproblems und eine Erhöhung des Lebensstandards, auch wenn die Gewinne der Globalisierung nicht gleichmäßig verteilt werden. Beschäftigte in Ländern mit hohem Einkom- men erlebten, dass ihre Arbeitsplätze in Länder mit Billiglöhnen abwanderten. Die negativen Folgen der Globalisierung erfuhren auch jene Entwicklungs- und Schwellenländer, in die interna- tionale Konzerne „dreckige“ Produktionsschritte verlagerten und dort Umweltprobleme schufen.96 Ab den 1980er Jahren spricht man von der Ära der „Hyperglobalisierung“, in der die internationale Wirtschaft stark verrechtlicht wurde. Die WTO (World Trade Organisation) als starke internationa- le Organisation konnte Vertragsverletzungen einklagen. Die G20 stellten Regeln auf, die OECD setzte sie um. Regulierungsinstitutionen wie die EU oder die NAFTA bildeten sich. Weiters verän- derte sich die Migration grundlegend. Es dominiert die Wanderung von den armen zu den reichen Ländern und die Migration zwischen armen Ländern. Ein weiteres Merkmal ist, dass die Hälfte des weltweiten Handels innerhalb der multinationalen Konzerne stattﬁndet. Man spricht von Va- lue Chains (Wertschöpfungsketten), durch die sich die weltweiten Handelsanteile fundamental verschoben haben. 111

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Veränderung der Handelsströme ab 1990 Quelle: URL: https://blog.tagesanzeiger.ch/nevermindthemarkets/index.php/39267/die-drei-phasen- der-globalisierung/ (10.05.2022) Die immer komplexeren Lieferketten brachten mehr Efﬁzienz, aber auch mehr Risiko. Der Anteil der Warenexporte am Bruttoinlandsprodukt war in den 1990er und 2000er Jahren extrem stark angestiegen und erreichte seinen Höhepunkt 2008, als die weltweite Finanzkrise begann. Chinas Exportanteil am BIP sank um 16%, globale Value Chains brachen zusammen. Die internationalen Kapitalﬂüsse konnten ihre Höchstwerte vor 2007 nie wieder erreichen. Experten betrachten diesen Zeitpunkt als Ende der Hyperglobalisierung. Danach kam Donald Trumps Wirtschaftskrieg, die COVID-19-Pandemie und die Invasion Russlands in die Ukraine. Diese Störungen setzten einen grundlegenden Wandel der Liefer- kettenplanung in Gang in dem sich die Tendenz zur „Just in Time-Produktion97“ in Richtung Vorratshaltung verschoben hat. Staaten und Konzerne überlegen bereits eine Kürzung der Lieferketten durch Verlegung der Produktionsstätten.98 Die Verbraucher spüren die Folgen des Kriegs bereits durch Preiserhöhungen und Abhängigkei- ten im Energie- und Lebensmittelsektor. Europa braucht die fossile Energie aus Russland, die ganze Welt braucht Agrarprodukte aus Russland und der Ukraine. Die Inﬂation ist so hoch wie zuletzt vor 40 Jahren. Aufgrund dieser Entwicklungen sehen Thieß Petersen und Cora Jungbluth, Wirtschaftsexperten der Bertelsmann Stiftung, eine Art Deglobalisierung nahen.99 Viele Staaten hätten sich in den letzten Jahren darum bemüht, kritische Abhängigkeiten zu reduzieren. Dies führe auch zur Bildung unterschiedlicher wirtschaftlicher Blöcke. (siehe dazu unseren Newsletter „Neue Verhältnisse auf der Welt“ vom 12.05.2022) Ökonom und Wirtschaftsprofessor an der Harvard Universität, Dani Rodik, hält aber auch ein Szenario für möglich, in dem die Globalisierung zukünftig eine bessere Balance zwischen den Vorteilen für die einzelnen Länder und den Anforderungen an eine offenen Wirtschaft schafft. 112

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Dies könnte Wohlstand für die Bevölkerung und Frieden und Sicherheit für die Staaten bedeuten. In einem ersten Schritt wäre es notwendig, dass die Regierungen die Fehler, die während der Hyperglobalisierung gemacht wurden, vermeiden. Sie sollten sich an der Politik der Bretton Woods Ära orientieren, als die Weltwirtschaft noch der heimischen Wirtschaft und sozialen Zielen wie Vollbeschäftigung, Wohlstand und Gleichheit diente, und nicht das Gegenteil der Fall war (Globale Wirtschaft auf Kosten der Gesellschaft).100 Als zweite Voraussetzung für ein positives Szenario der Globalisierung ist es notwendig, dass sich die Sorge um die nationale Sicherheit nicht in Aggressionen gegenüber anderen Ländern spiegelt. Die Sorge Russlands um die Vergrößerung der NATO und der Ukrainekrieg werden Russlands Sicherheit schwächen und den Wohlstand des Landes auf lange Sicht senken. Für mächtige Staaten wie die USA bedeutet es die Aufgabe des Strebens nach Vorherrschaft. Durch die ständige Angst vor dem wirtschaftlichen und technischen Fortschritt Chinas werden die bilateralen Beziehungen zu einem Nullsummenspiel. Kooperation in Sachen Klimaschutz und Weltgesundheit sollten im Vordergrund stehen und gesunden Wettbewerb in vielen anderen Bereichen fördern. Zusammengefasst hält Rodrik ein dystopisches Szenario der Deglobalisierung nicht für notwen- dig. Ähnlich wie mit der Hyperglobalisierung, als die falschen Entscheidungen getroffen wurden, liegt es an den Entscheidungsträgern, welche Zukunft die Globalisierung haben wird. 113

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9. Stoßen wir an die Grenzen des Wachstums? (02.06.2022) Das aktuelle, individuelle und lokale Handeln aller hat globale Auswirkungen. Diesen Standpunkt wollte 1972 der Club of Rome101 mit einer Studie zur Zukunft der Weltwirtschaft aufzeigen. Sie wurde am MIT (Massachusetts Institute of Technology) erstellt und von der Volkswagenstiftung mit einer Million DM ﬁnanziert. „The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind“ (zu Deutsch: „Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit“) wird heute als eines der einﬂussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Biophysikerin und Biobäurin Donella Meadows und Betriebswirt Dennis Meadows, der nor- wegische Ökonom Jorgen Randers und ihr mehr als zwölfköpﬁges Team aus zumeist jungen WissenschaftlerInnen aus sechs Ländern erstellten erstmals globale Simulationen über das Jahr 2050 hinaus: Bevölkerungsexplosion, Rohstoffmangel, Umweltverschmutzung, Niedergang der Weltwirtschaft – alles für den Fall, dass die vorherrschenden Muster des Verbrauchs von Umweltressourcen und der Umweltverschmutzung sich fortsetzen. Das exponentielle Wachstum könne nicht ewig weitergehen, an einem Punkt in den kommenden 100 Jahren würde es unweigerlich mit den endlichen ökologischen Begrenzungen der Erde kollidieren. Dies würde mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem raschen und nicht aufhaltbaren Absinken der Bevölkerungszahl, der Ressourcen und des Wirtschaftswachstums führen, ver- bunden mit schweren Krisen bis hin zum Zusammenbruch der Gesellschaft. Die Debatte könnte heute - 50 Jahre nach Erscheinen des Buches - angesichts der Klima- und Umweltkrise, aktueller nicht sein. Ende der 1960er Jahre wurde auf den Straßen Mitteleuropas gegen Nazis und Vietnamkrieg demonstriert. Die unübersehbaren Schaumberge auf Flüssen, zunehmender Fluglärm, wilde Müllkippen und aufkommende Atomkraft wurden jedoch immer mehr zum Thema. In den 1970er Jahren entstanden Organisationen wie Greenpeace und der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND). In den vereinten Nationen kam es ab 1972 zu einem Prozess, der Arten- und Klimaschutz international thematisierte und z.B. 1983 zur Weltkommission Umwelt und Entwicklung und später zu den Milleniums-Entwicklungszielen der UN oder auch zum Pariser Klimaabkommen führte. Die Studie zu den Grenzen des Wachstums beruht auf einer Computersimulation. Die Forscher untersuchten, wie sich fünf Trends gegenseitig über die Zeit beeinﬂussen würden: Industriali- sierung, Bevölkerungswachstum, Unterernährung, nicht erneuerbare Ressourcen sowie Umwelt- schäden. Ziel des Berichts war es nicht, Prognosen für die Zukunft abzugeben. Die Wissen- schaftler wollten verstehen, welche Dynamiken durch exponentielles Wachstum und die Wech- selwirkungen zwischen den einzelnen Trends entstehen könnten. Zehn Szenarien, die jeweils auf etwas anderen Annahmen beruhten, wurden entwickelt. Die Hochrechnungen zeigten jedoch eines immer wieder: Eine Weiterführung des Ist-Zustands würde es ohne massive Krisen nicht 115

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geben können. Bis spätestens 2100 wäre eine Katastrophe für die Weltgesellschaft unvermeid- bar. „Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von na- türlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht. Mit großer Wahrschein- lichkeit führt dies zu einem ziemlich raschen und nicht aufhaltbaren Absinken der Bevölkerungszahl und der industriellen Kapazität.“ „Die Grenzen des Wachstums“, 1972 Auch technischer Fortschritt könne den Prozess nicht aufhalten, so der Bericht. Dieser könne die Zeit bis zum Zusammenbruch zwar verlängern, er würde die Grenzen des Wachstums aber nur ein Stück verschieben und nicht aufhalten. Damit technische Innovation weltweit zu einem ökologischen und sozialen Gleichgewicht führt, müsse sie zwingend mit sozialen und politischen Maßnahmen verbunden werden. „Die Grenzen des Wachstums“ stieß auf massive Kritik. So sei der Faktor Mensch und sein Verhalten als wichtiger Faktor zu wenig in das Modell einbezogen worden. Zudem warf man den Verfassern mangelndes Verständnis wirtschaftlicher Grundprinzipien vor. Dennoch wurde die Grundausrichtung der damaligen Studie seit 2008 mehrmals wissenschaftlich als richtig bestätigt, zuletzt 2020.102 Quelle: URL: wachstums (31.05.2022) https://www.saurugg.net/2019/blog/vernetzung-und-komplexitaet/die-grenzen-des- Zweimal wurde der erste Bericht an den Club of Rome aus dem Jahr 1972 aktualisiert und fortgeschrieben: 1992 und 2012. Die Studie war Auftakt für weitere wissenschaftliche Ausein- andersetzungen mit den Konsequenzen des Wachstums innerhalb der planetaren Grenzen. Ein Beispiel ist das 2020 erschienene Buch „Ist Nachhaltigkeit utopisch?“ von Christian Berg, der die Hürden für nachhaltiges Handeln wie falsche Marktanreize, Politikversagen, moralische Deﬁzite oder Systemträgheiten analysiert. Andere Studien greifen einzelne Aspekte des damaligen Berichts auf und analysieren Probleme wie z.B. die prekäre Lage der Ozeane und Wälder. 116

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In der Volkswirtschaftslehre und Soziologie stellt man sich basierend auf den Bericht vor 50 Jah- ren die Frage, ob es überhaupt noch Wachstum geben darf und ob nicht auch wirtschaftliche Schrumpfprozesse mit einem guten Leben vereinbar sein können. Die Verfechter dieses „negativen Wachstums“ führen zudem an, dass das Wirtschaftswachstum nicht nur nicht ökologisch nachhaltig ist, sondern auch nicht dazu führe, dass es der Bevölkerung besser geht. Das BIP-Wachstum in den reichen Ländern sei inzwischen mit einer Vielzahl sozia- ler Probleme verbunden, die von allgegenwärtiger Ungleichheit bis hin zu einer zunehmenden Zahl psychischer Erkrankungen reichen. Viele Ökonomen merken an, dass man das Wirtschaftswachstum über das Volkseinkommen und die Wirtschaftsleistung (BIP) misst und es daher keine simple Beziehung zwischen diesen Kennzahlen und der Umweltzerstörung gebe. Der Einsatz erneuerbarer Energien, die Wieder- verwertung von Abfällen und die Verlagerung des Konsums von Waren auf Dienstleistungen könne das Wirtschaftswachstum viel weniger umweltschädlich machen und zu einem „grünen Wachstum“ führen. „Grünes Wachstum“ hat sich in den letzten 10 Jahren zum ofﬁziellen Ziel der wichtigsten multilateralen Wirtschaftseinrichtungen entwickelt, darunter die Weltbank und die OECD. Während in den reichen Ländern die CO2-Emissionen in den letzten Jahren tatsächlich gesun- ken sind (bei wachsenden Volkswirtschaften), wurde das BIP-Wachstum zum Großteil durch Verlagerung der Emissionen nach China und in andere Schwellenländer erreicht. In Bereichen wie Entwaldung, Fischbestände oder Bodenverarmung wurde nur eine geringe oder gar keine Entkoppelung des Wirtschaftswachstums von den Umweltschäden erreicht.103 In der Debatte zwischen den Verfechtern des grünen Wachstums und des negativen Wachstums hat sich in den letzten Jahren eine dritte Position herausgebildet. Die Vertreter der „Postwachs- tumsökonomie“ kritisieren die Vertreter des grünen und des negativen Wachstums dafür, dass sie sich auf das BIP konzentrieren, da es weder Umweltzerstörung noch soziales Wohlergehen messe. Eine Gruppe führender Ökonomen argumentierte in einem 2020 veröffentlichten Bericht für die OECD104, dass sich die Wirtschaftspolitik stattdessen auf die wichtigsten gesellschaftlichen Ziele konzentrieren sollte. In den reichen Ländern sollte das heute ökologische Nachhaltigkeit, eine Steigerung des Wohlbeﬁndens, ein Rückgang der Ungleichheit und größere wirtschaftliche Resilienz sein. Die 1972 in „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlichte Empfehlung ein ökologisches und wirtschaftliches Gleichgewicht herzustellen, anstatt am Prinzip des „Weiter so“ festzuhalten, um eine globale Katastrophe zu vermeiden und die Transformation hin zu einer nachhaltigeren Wirtschaftsordnung zu schaffen, ist also immer noch aktuell. Des Weiteren gilt aber auch nach wie vor, dass der Großteil der Erdbevölkerung weder Zeit noch Muße hat, sich mit globalen Wachstumsgrenzen zu beschäftigen, weil er mit dem täglichen Kampf ums Überleben für sich und seine Familien beschäftigt ist und sich nur auf das Jetzt, seine Arbeit und seine direkte Umgebung konzentrieren kann. Die Versuche, vom zerstörenden Wachstum wegzukommen und Klimawandel und Artensterben zu stoppen, müssen demnach schnell intensiviert werden. 117

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10. Bildung ist ein rares Gut (09.06.2022) Für viele Kinder weltweit bedeutet Schule nicht automatisch, dass sie viel lernen. Tatsächlich ist es nach Abschluss der Grundschule in den High Income Countries (Volkswirtschaften mit einem Bruttonationaleinkommen von 12.695 USD und mehr pro Kopf) 9% der Kinder nicht möglich, sinnerfassend zu lesen. Ein viel größeres Problem ist das aber in den Entwicklungsländern (Bruttonationaleinkommen von 1.045 USD oder weniger pro Kopf). Der Bildungsforscher Jo ¯ao Pedro Azevedo und seine Kollegen schätzen, dass in den ärmsten Ländern der Welt 90% der Kinder nach Abschluss der Grundschule nicht sinnerfassend lesen können.105 Quelle: URL: https://ourworldindata.org/better-learning (07.06.2022) Kinder, die nicht gelernt haben zu lesen, sind später nicht in der Lage zu lesen, um zu lernen. Das ermöglicht ihnen keinen Zugang zu einem reichen und erfüllten Leben und bietet ihnen keine Möglichkeit, zukünftige Probleme zu lösen. Gründe für das Problem sind erstens die Tatsache, dass viele Kinder erst gar keine Schule besuchen (das ist der Fall bei 8% der Kinder weltweit) und zweitens, dass sie, sobald sie in der Schule sind, nicht zwingend etwas lernen. Zu letzterem gibt es wenig bis keine Daten, die meisten beziehen sich auf die Anwesenheit in der Schule. Auch der bekannte UN Human Development Index106 bildet lediglich die Anwesenheit in den Schulen ab, nicht ob Kinder lernen. Für ein ganzheitliches Bild sollte aber auch der Zugang zur Schule gemessen werden, da diese ein Ort ist, an dem sich Kinder sozialisieren, mit Sicherheit und Nahrungsmitteln versorgt werden und es die Anwesenheit der Kinder den Eltern erlaubt, arbeiten zu gehen. 119

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Es sind also Statistiken nötig, die beides abbilden: die Quantität der Bildung (z.B.: wie viele Jahre gehen die Kinder in die Schule), aber auch die Qualität der Bildung. Die Ungleichheit beim Lernen spiegelt grundsätzlich wirtschaftliche Ungleichheit wider. Eine Studie von Dev Patel und Justin Sandefur107 von der Harvard Universität zeigt die großen Unterschiede sowohl beim Lernerfolg als auch zwischen den Ländern. Prüfungsergebnisse Mathematik nach Familieneinkommen (7 Beispielländer) Quelle: URL: https://ourworldindata.org/better-learning (07.06.2022) Die für 58 Länder verfügbaren Daten zeigen in den meisten Fällen eine von links nach rechts aufwärtsstrebende Linie, was bedeutet: Schüler reicher Familien sind besser in Mathematik. In den Ländern mit den größten ökonomischen Ungleichheiten wird dies besonders deutlich. Die viel größeren Unterschiede bestehen jedoch zwischen den Ländern selbst. Eine weitere Erkenntnis der Studie ist, dass das Durchschnittseinkommenslevel eines Landes wichtiger für den Lernerfolg der Schüler ist als das Einkommen der einzelnen Familien innerhalb des Landes selbst. Zum Beispiel: Die ärmsten Schüler Koreas oder Finnlands sind ärmer als die reichen Schüler in Brasilien, aber ihre Erfolge in Mathematik sind viel größer. Oder: Vergleicht man die Testergebnisse der Schüler, deren Familien ein jährliches Einkommen von 5.000 USD haben, zeigt sich eine Bandbreite von niedrigen 350 Indexpunkten in armen Ländern bis zu einem sehr guten Ergebnis von 600 Punkten. 120

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Prüfungsergebnisse Mathematik nach Familieneinkommen (alle verfügbaren 58 Länder) Quelle: URL: https://ourworldindata.org/better-learning (07.06.2022) Das bedeutet, dass in Ländern wie Finnland das Bildungssystem einen Ausgleich möglich macht, da es jedem Kind eine Chance auf Lernerfolg bietet, unabhängig vom familiären Hintergrund. In den meisten Ländern jedoch zeigen die Bildungsunterschiede die große Ungleichheit auf. Kinder reicheren Hintergrunds lernen tendenziell mehr, was sie später zu besser ausgebildeten und produktiveren Arbeitnehmern macht, was wiederum das Land wirtschaftlich erfolgreicher macht. Soll also Ungleichheit durch Bildung gestoppt werden, ist es notwendig, die Bildungsqualität von hundert Millionen von Kindern zu verbessern. Max Roser, Gründer und Direktor der Plattform „Our World in Data“, ist der Meinung, dass es möglich ist, die Bildungsqualität weltweit zu verbessern.108 Historisch gesehen ist es noch nicht lange her, dass nur die wenigsten Menschen (meist eine kleine Elite) überhaupt lesen und schreiben konnten. Insofern sieht Roser hier bereits Fortschritte, da der Großteil der Kinder heute mehr lernt als in den Jahren zuvor. 121

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Prüfungsergebnisse Mathematik nach Familieneinkommen (alle verfügbaren 58 Länder) Quelle: URL: https://ourworldindata.org/better-learning (07.06.2022) Ein Grund für das niedrige Lernniveau der Kinder ist oft nicht nur das fehlerhafte Bildungssystem, sondern die Tatsache, dass die Kinder unter Mangelernährung, Armut und schlechter Gesund- heit leiden. Ein Beispiel dazu ist Singapur, dessen Kinder im internationalen Vergleich bezüglich Lernerfolg an der Spitze stehen. Noch vor 100 Jahren starb in Singapur jedes dritte Kind und das Land hatte ein BIP pro Kopf von 3.000 USD. Ohne die umfangreichen Verbesserungen im Bereich Kindergesundheit hätte das Land keinen derartigen Erfolg erzielt. " Bessere Gesundheit, weniger Armut und nährstoffreichere Ernährung können oft mehr zu einer erfolgreichen Schulbildung beitragen als der beste Lehrer. Aber auch die Ausbildung der Lehrer spielt eine große Rolle. In einer Studie wurden die Lehrer in Schulen der ärmsten Regionen Guinea-Bissaus ausgebildet, mit Lehrplänen versorgt, Kinder und Lehrer wurden begleitet, die Dorfgemeinschaft miteinbezogen und die Ressourcen für den Schulalltag zur Verfügung gestellt.109 Nach vier Jahren wurden die Erfolge der studienbegleiteten Schulen den Erfolgen der anderen Schulen gegenübergestellt. Während im alten Schulsystem nur 0,09% der Kinder lesen gelernt hatten, hatten es 64% der Schüler der Testschulen erlernt. Bildung an Orten, an denen Kinder gut lernen ist teuer. High Income Länder geben mehr als 150mal soviel für die Ausbildung jedes Kindes aus als Entwicklungsländer. 122

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Es kann jedoch mit wenig bereits sehr viel erreicht werden, wie weitere Studien110 zeigen. Erstens sollten zu ambitionierte Lehrpläne dem Bildungslevel der Schüler angepasst werden. Zweitens sollten Lehrer die Möglichkeit erhalten, an Pädagogikprogrammen teilzunehmen, um Zugang zu Ausbildung, strukturierten Stundenplänen und technischen Lehr- und Hilfsmitteln zu erhalten. Drittens sollte die Bevölkerung darüber informiert werden, wie wichtig und notwendig eine gute Schulausbildung für eine gute Zukunft ist. Ob die zukünftigen Generationen im Kampf gegen Krankheit, Armut, Mangelernährung und Um- weltproblemen Fortschritte machen werden, liegt in erster Linie an ihrem Verständnis für die globalen Vorgänge und der Fähigkeit Ideen zur Verbesserung zu entwickeln. Dafür ist ein Min- destmaß an Bildung unerlässlich. 123

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11. Der neue Kalte Krieg (23.06.2022) Im Februar 1948 putschten sich die Kommunisten in Prag an die Macht und bestärkten damit die Absicht Stalins, ganz Osteuropa zu annektieren. Bald darauf kam es zur Gründung der NA- TO und zur Teilung Deutschlands. Der Kalte Krieg, der erst 50 Jahre später enden sollte, begann. Im Februar 2022, 74 Jahre später, marschierten auf Befehl des autokratischen Machthabers Putin russische Soldaten in die Ukraine, einem Land mit demokratisch gewählter Regierung, ein. Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist der Kalte Krieg zurück. Diesmal geht es nicht um eine Konfrontation zwischen Kapitalismus und Kommunismus, sondern zwischen zwei gegensätzlichen Prinzipien der internationalen Politik: dem Primat der militärischen Macht, der Jahrtausende das Weltgeschehen bestimmte, und einer modernen Überzeugung, dass die Menschheit nur überleben kann, wenn sie auf Grundlage verbindlicher Regeln zusammenarbeitet.111 Der neue Kalte Krieg verläuft entlang zweier Fronten. Denn der Westen - allen voran die Vereinigten Staaten von Amerika - stehen nicht nur mit Russland, sondern auch mit China, und das schon lange vor dem Einmarsch der Russen in die Ukraine, im Konﬂikt. Wirtschaftsexperten sind sich einig, dass es unvermeidlich ist, dass China die USA wirtschaftlich überholen wird. China hat viermal so viele Einwohner wie die USA und seine Wirtschaft wächst seit Jahren dreimal so schnell. In Washington ist man sich parteiübergreifend einig, dass China eine strategische Bedrohung darstellen könnte und die Regierung gut daran tut, das Wachstum der chinesischen Wirtschaft nicht mehr zu unterstützen. Dies kann auch Verstöße gegen die Regeln der Welthandelsorgani- sation bedeuten, die die USA einst mitgestaltet haben. China wird in den USA auch als die langfristigere Bedrohung wahrgenommen, von dem auch der Ukraine-Krieg nicht ablenken kann. Russlands Wirtschaft ist etwa so groß wie die Spaniens und ist daher ökonomisch kaum relevant. Einzig der Schulterschluss mit China scheint ein schwer vorhersehbares Problem darzustellen, da Russland nicht abgeneigt ist, sich an störenden Aktivitäten in der ganzen Welt zu beteiligen. Putins Mischung aus Verfolgungswahn und Aggression ist in der russischen Geschichte tief verwurzelt. Schon die Zaren sahen ihre Sicherheit nur gewährleistet, wenn sie riesige Gebiete rund um ihr moskowitisches Kernland beherrschten und als Großmacht auf der Weltbühne respektiert wurden. Die sowjetischen Machthaber folgten der gleichen Maxime. Die kurze Phase, als Michail Gorbatschow und Boris Jelzin Russlands Sicherheit in der Zusammenarbeit mit dem Westen suchten, war eine Ausnahme.112 Die USA und die EU müssen davon ausgehen, dass auch die schärfsten Wirtschaftssanktionen Putin nicht von seinem Aggressionskurs abbringen werden. Dieser Kurs ist jedoch auch nicht einfach hinnehmbar, ist er doch mit den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, auf dem die EU basiert, und der universellen Geltung der Menschenrechte, nicht zu vereinen. 125

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Anders als bei Beginn des ersten Kalten Krieges ist Westeuropa heute kein kriegszerstörter Trümmerhaufen und steht überwiegend politisch geeint und wirtschaftlich relativ stark der neuen russischen Bedrohung gegenüber. Des weiteren fehlt Putin, anders als Stalin und seinen Erben, eine attraktive universelle Ideolo- gie, die ihm internationale Verbündete bringt. Großrussischer Nationalismus hat außerhalb der eigenen Grenzen keine Anziehungskraft. Für Peking sind die Beziehungen zu Moskau und Putin dennoch von zentralem nationalem Interesse. Der Krieg zwingt nämlich die USA zumindest vorübergehend, ihr Hauptaugenmerk vom Indo-Paziﬁk wegzulenken und auf Europa zu konzentrieren. Das Reich der Mitte hat damit sozusagen „den Rücken frei“ und kann sich voll auf seine maritimen Interessen in der Region konzentrieren. In seinem Artikel „How the US Could Lose the New Cold War”113 geht der Wirtschaftswissen- schaftler Joseph Stiglitz davon aus, dass die USA dringend eine Strategie benötigen, um aus dem neuen Kalten Krieg als Sieger hervor zu gehen. Die Ausgangslage ist nämlich denkbar schlecht: Zwar waren die USA nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zwei Jahrzehnte lang die Nummer eins. Dann folgten jedoch katastrophal fehlgeleitete Kriege im Nahen Osten, der Finanzcrash von 2008, zunehmende Ungleichheit, die Opioid-Epidemie und weitere Krisen, die die Überlegenheit des amerikanischen Wirtschaftsmo- dells in Frage stellen. Dazu kommen die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten, ein versuchter Staatsstreich im US-Kapitol, zahlreiche Massenschießereien, eine auf Wählerunterdrückung ausgerichtete republikanische Partei und der Aufstieg von Verschwörungssekten wie QAnon. Die natürlichen Verbündeten der USA sind Europa und andere entwickelte Demokratien der Welt. Unter Präsident Trump wurde jedoch viel getan um diese Länder zu entfremden. Doch auch auf das Wohlwollen der Entwicklungs- und Schwellenländer sind die USA an- gewiesen, um sich Zugang zu wichtigen Ressourcen zu sichern. Hier hat China schon wertvolle Arbeit geleistet, in dem es arme Länder mit harter Infrastruktur ausgestattet hat. Zusätzlich stellen die neuen Gegner der USA anderen Ländern ihre Impfstoffe zum Selbstkosten- preis oder zu niedrigen Preisen zur Verfügung und bieten gleichzeitig Hilfe bei der Entwicklung von Impfstoffproduktionsanlagen. Geht es um den Klimawandel, dann erweisen sich die USA erst recht als unglaubwürdig. Die Treibhausgasemissionen der USA sind nach wie vor die bei weitem größten und auch das Versprechen den armen Ländern bei der Bewältigung der Auswirkungen der Klimakrise zu helfen, für die sie verantwortlich sind, wurde noch nicht annähernd eingelöst. Im Gegenteil: US-Banken tragen zu den sich abzeichnenden Schuldenkrisen in vielen Ländern bei. Stiglitz meint, dass Kalte Kriege letztlich mit der sanften Macht der Anziehungskraft und Über- zeugung gewonnen werden. Das bedeutet, dass der Rest der Welt von der Überlegenheit der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Systeme überzeugt werden muss. Der Westen muss also seine Systeme wieder so sanieren, dass die Welt ihn darum beneidet. Dazu zählen die Verringerung der Waffengewalt, die Verbesserung der Umweltvorschriften, die Bekämpfung von Ungleichheit und Rassismus und der Schutz der reproduktiven Rechte von Frauen. 126

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12. Bei 10,4 Milliarden ist Schluss (14.07.2022) Dem UN-Bericht „World Population Prospects 2022“114 vom 11. Juli (World Population Day) zufolge, wächst die Weltbevölkerung immer langsamer. Im Jahr 2020 sank die Wachstumsrate der Weltbevölkerung erstmals seit 1950 auf unter 1% pro Jahr. Derzeit liegt das Bevölkerungs- wachstum nur noch bei 0,8%. Quelle: United Nations: World Population Prospects 2022 In absoluten Zahlen nimmt die Weltbevölkerung jedoch um 66 Millionen Menschen pro Jahr (durchschnittlich 2,1 Menschen pro Sekunde) weiter zu. Am 15. November 2022 wird den Prognosen zufolge die Marke von acht Milliarden Menschen ge- knackt werden. Aktuell bevölkern 7.977.000.000 Menschen unseren Planeten. Für 2030 werden 8,5 Milliarden Menschen auf der Erde leben, für 2050 sagen Forscher 9,7 Milliarden Menschen voraus. Im Jahr 2080 soll es eine Spitze von 10,4 Milliarden Menschen geben, die den Schät- zungen zufolge bis etwa 2100 anhalten wird. Dann folgt die Wende in der Weltgeschichte: Die Gesamtbevölkerung soll danach schrumpfen. 127

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Quelle: United Nations: World Population Prospects 2022 Im globalen Süden ist die Geburtenziffer nach wie vor hoch. Mädchen und Frauen bekommen dort immer noch mehr Kinder, als sie sich wünschen. In Afrika südlich der Sahara beträgt die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau 4,6, was trotz sinkender Zahlen noch weit über dem weltweiten Durchschnitt von 2,3 liegt. Die Geschäftsführerin der „Deutsche Stiftung Weltbevölkerung“ (DSW), Angela Bähr, erklärt, dass die Möglichkeit der selbstbestimmten Familienplanung von Jugend an nicht nur ein Menschenrecht sei, sondern auch ein Schlüssel zur Armutsbekämpfung. Sexualaufklärung und Zugang zu Verhütungsmitteln müssen Grundpfeiler einer feministischen Entwicklungspolitik sein.115 John Wilmoth, Direktor der UN-Bevölkerungsabteilung, sieht in der globalen Entwicklung, trotz aller regionaler Unterschiede, viele Chancen vor allem für die Entwicklungsländer. Dies gelte neben der Bekämpfung von Armut und Hunger vor allem für das Thema Bildung: Weniger Nachwuchs erhöhe die Aufmerksamkeit pro Kind. „Wenn die durchschnittliche Familiengröße sinkt, wird es sowohl Familien als auch Gesellschaf- ten möglich, mehr in jedes Kind zu investieren, die Qualität der Bildung zu verbessern und das Humankapital der Bevölkerung zu entwickeln", so Wilmoth. Kehrseite niedrigerer Geburtenraten sei in ein Alter komme, in dem er auf Hilfe angewiesen sei. Insbesondere, weil auch die Lebenserwartung zunehmen wird.116 jedoch, dass die Bevölkerung insgesamt älter werde und ein größerer Anteil 128

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Die Lebenserwartung bei der Geburt ist höchst unterschiedlich je nach Land oder Region. In den am wenigsten entwickelten Ländern lag im Jahr 2021 die Lebenserwartung 7 Jahre unter dem weltweiten Durchschnitt. Gründe dafür sind die hohe Sterblichkeitsrate von Kindern und Müttern, Gewalt und Konﬂikte sowie die anhaltendenden Auswirkungen der HIV-Epidemie. Quelle: United Nations: World Population Prospects 2022 Der Anteil der über 65-Jährigen an der Weltbevölkerung vergrößert sich ständig. Im Jahr 1959 gab es einen Anteil von 35% 0-14-Jähriger und 5% über 65-Jährige an der Bevölkerung weltweit. Derzeit liegt der Anteil der 65-Jährigen bei 10% und wird bis 2050 auf 16% steigen. In diesem Jahr wird auch die Anzahl der Personen über 65 mehr als doppelt so groß sein wie die der Kinder unter 5 Jahren, nämlich ungefähr gleich groß wie die Anzahl der Kinder unter 12. Derzeit ist China das meistbevölkerte Land der Welt (1,426 Milliarden Menschen), allerdings wird es gemäß den Prognosen bereits 2023 von Indien (1,417 Milliarden Menschen) an der Spitze abgelöst werden. Auf Platz 3 liegen derzeit die Vereinigten Staaten von Amerika mit 338 Millionen Menschen, gefolgt von Indonesien (276 Millionen) und Pakistan (236 Millionen). Der Bevölkerungszuwachs in High-Income-Countries117 wird stark durch die internationale Mi- gration angetrieben. Für diese Länder wird Migration in den nächsten Dekaden den einzigen Zuwachs der Bevölkerung darstellen. 129

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Quelle: URL: https://www.youtube.com/watch?v=dOKY9AyeHL4 (12.07.2022) Im Gegensatz dazu wird in der absehbaren Zukunft die Geburtenrate in den Entwicklungsländern die Sterberate weiterhin übertreffen. Quelle: URL: https://www.youtube.com/watch?v=dOKY9AyeHL4 (12.07.2022) Der Bericht der UN nimmt auch Stellung zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die demograﬁschen Entwicklungen. Diese betreffen alle Faktoren des demograﬁschen Wandels, inklusive Sterblichkeit, Fruchtbarkeit und Migration. Aufgrund der COVID-19-Pandemie sank die Lebenserwartung im Jahr 2021 auf 71 Jahre. Im Jahr 2019 lag sie noch bei 72,8 Jahren. Die für den UN-Bericht verantwortlichen Experten betonen, dass sie ziemlich genau wissen, wie sich die Weltbevölkerung in den nächsten 30 oder 40 Jahre in den einzelnen Ländern und weltweit entwickeln wird. Die Forschung beginnt aber nun zwei oder drei Generationen in die Zukunft zu blicken. In diesem Zeitrahmen gibt es naturgemäß sehr viel Unsicherheit. 130

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13. Die Notwendigkeit des Multilateralismus (04.08.2022) Am 6. Juli 2022 hat das Europäische Parlament bei einer Stellungnahme zum Thema „Die EU und die Verteidigung des Multilateralismus“118 beschlossen, dass - der in den Grundwerten der EU verankerte Multilateralismus wiederherzustellen ist. - die Vereinten Nationen und die Beteiligung der Europäischen Union an ihrem System ge- stärkt werden müssen. - der Multilateralismus durch verstärkte globale Partnerschaften zur Verfolgung gemeinsa- mer Ziele wieder aufzubauen ist. - das Europäische Parlament verstärkt eingebunden werden soll. - der Multilateralismus als Motor bei der Bewältigung dringender globaler Herausforderungen benötigt wird. Die multilaterale Zusammenarbeit, also die Zusammenarbeit mehrerer Staaten in verschiede- nen Gremien, ist ein wichtiges Element der (europäischen) Politik und ihre Bedeutung sollte angesichts teils existenzieller Bedrohungen (Klimawandel, Versorgungsengpässe, Artensterben, Pandemien) umso mehr an Bedeutung gewinnen. Kein Land kann die Herausforderungen unserer Zeit alleine bewältigen. Doch die Überwindung von nationalen Interessen und das Zusammenlegen von Ressourcen und Erfahrungen um kollektive Entscheidungen zu treffen, gestaltet sich bereits in krisenlosen Zeiten schwierig. Immer wieder wird dem Multilateralismus sein baldiges Ende prognostiziert. In den vergangenen 30 Jahren wurde das internationale System von einem multilateralen Modell dominiert, institutionalisiert unter anderem von UNO, WTO oder Weltbank. Nicht erst mit der Präsidentschaft von Donald Trump und seiner „America First“-Politik zeigten sich erste Risse im multilateralen Gefüge. Dennoch führten seine Kritik an der NATO, sein schwaches Bekenntnis zu den europäischen Verbündeten, die Befürwortung von Handelsprotektionismus sowie der Rückzug aus internationalen Abkommen dazu, die Skepsis gegenüber dem liberalen Internationalismus in der US-amerikanischen Außenpolitik zu verstärken. Gegenwind sind die Vereinten Nationen und andere multilaterale Organisationen seit vielen Jahren gewohnt. Dazu gehören neben Trumps Rückzug aus der WHO und die Blockade der WTO auch die regelmäßigen Versuche Chinas, internationale Menschenrechtsstandards abzuschwächen. Mit seinem Angriffskrieg in der Ukraine führt der russische Diktator Putin der Welt aber am eindrucksvollsten vor Augen, dass die Zeit des Multilateralismus, wie er bis dato verstanden wurde, vorbei ist. Das Verfolgen der eigenen Interessen nicht ohne Rücksicht auf die Interessen anderer Länder zu nehmen, wird vom russischen Staat komplett abgelehnt und zeigt, dass 133

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Multilateralismus in der Außenpolitik niemals funktionieren kann, wenn die Interessen eines Staates darin liegen, Schwächere zu dominieren oder zu vernichten. „Mit Russlands brutalem Angriffskrieg auf die Ukraine verpufft eine Idee, die deutsche Au- ßenpolitiker, allen voran der ehemalige Außenminister Heiko Maas, wie eine Monstranz vor sich hergetragen haben. Multilateralismus war das Zauberwort deutscher Außenpolitik der vergangenen Jahre, ein Begriff, der irgendwie nach Vernunft klingen sollte, den aber auch der Ex-Außenminister nie so recht erklären konnte.“, so Johannes Hano in einem Kommentar auf zdf.de.119 Das im Juli abgehaltene G20-Treffen der Außenminister in Indonesien und der für November angesetzte Gipfel der G20-Regierungschefs auf Bali fallen in eine Zeit der oben genannten existentiellen Bedrohungen. Die G20 vertreten 85% des weltweiten BIP, 75% des internationalen Handels und zwei Drittel der Weltbevölkerung. Aufgrund des russischen Angriffs auf die Ukraine, den Dürren und einer Vielzahl weiterer Faktoren leiden Millionen Menschen weltweit unter einer kritischen Lebensmittel- und Energieknappheit. Dazu kommen die rekordhohen Temperaturen in Europa, China, Südasien und anderen Teilen der Welt. Nur globale Maßnahmen und entschlos- senes gemeinsames Handeln können eine umfassende humanitäre Katastrophe verhindern. Gelsomina Vigliotti, Vizepräsidentin der Europäischen Investitionsbank, ist davon überzeugt, dass Staaten und Regierungen nicht die einzigen Akteure in diesem globalen Drama sind. Für sie steht fest, dass auch der private Sektor ein wichtiger Baustein zur Bewältigung der Krise ist. Zur Behebung von Lieferengpässen, Produktion sauberer Energie und deren ﬂächendeckendem Ausbau sowie zur Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten bedarf es der Ressourcen und Expertise des privaten Sektors.120 Die Regierungen sieht Vigliotti in der Pﬂicht, das Potential des privaten Sektors zu mobilisieren und zu nutzen. Dabei spielen internationale Foren und Institutionen eine entscheidende Rolle. Besonders betont sie als Beispiel einer multilateralen Finanzinstitution die Rolle der EIB Global (Entwicklungsabteilung der Europäischen Investitionsbank) und ihren Anteil an der Umsetzung der Strategie „Global Gateway “.121 In Hinsicht auf die Gefahr durch Pandemien und deren Häuﬁgkeit als Folge des Klimawandels braucht es internationale Kooperation. Investitionen in Infrastruktur, medizinische Grund- versorgung und gut ausgebildete medizinische Fachkräfte können zukünftige pandemische Bedrohungen bereits im Keim ersticken. Die Europäische Investitionsbank (EIB) ist seit ihrer Gründung damit betraut mit eigenen Kapitalmitteln zu einer ausgewogenen Entwicklung des Binnenmarktes im Interesse der Union beizutragen. Damit betreibt sie „Wirtschaftspolitik durch Kreditvergabe“ und ist auch außerhalb der EU tätig. Das gezeichnete Kapital der EIB beläuft sich auf 242 Milliarden Euro (Stand 2021), die über Anleihen an den Kreditmärkten beschafft werden.122 Gemeinsam mit der Weltgesundheitsorganisation, der Europäischen Kommission und der Afrikanischen Union will die Europäische Investitionsbank 1 Milliarde Euro für Investitionen in Sub-Sahara Afrika mobilisieren, um die medizinische Grundversorgung zu stärken und den Zugang zu Impfstoffen zu verbessern. Die Investition soll zusätzliche Mittel aus dem öffentlichen Sektor anziehen. Was hier zum Tragen kommt ist nur logisch: die globalen Herausforderungen unserer Zeit sind 134

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für ein einzelnes Land zu groß und komplex. Echte Erfolge können nur durch globale Koope- ration erzielt werden, zwischen Staaten, Regierungen und dem privaten Sektor. Multilaterale Finanzinstitutionen sind dazu geschaffen, diese Kooperationen zu ermöglichen. Die multilaterale Ordnung muss aber auch an die heutige Zeit angepasst werden. Mitte letzten Jahres wurde bereits ein Weißbuch zum Multilateralismus von der Deutschen Bundesregierung veröffentlicht.123 Darin werden Themen wie die Stärkung des Multilateralismus für das 21. Jahr- hundert im Hinblick auf Frieden und Sicherheit, Krisenbewältigung und nachhaltigem Wohlstand thematisiert. Solche Anstrengungen sollten im Lichte der aktuellen Entwicklungen nur umso stärker vorange- trieben werden. Der Entschluss des Europäischen Parlaments vom 6. Juli 2022 ist ein wichtiger Schritt. 135

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14. Wasser – ein knappes Gut (11.08.2022) Weltweit leiden die Menschen unter den Folgen des Klimawandels. Wasserknappheit ist eine davon und betrifft vor allem jene 2 Milliarden Menschen, die keinen regelmäßigen, direkten Zugang zu sauberem Wasser haben. Die Situation ist alarmierend. 771 Millionen Menschen haben überhaupt keine Grundversorgung mit Trinkwasser. Quelle: URL: https://ourworldindata.org/explorers/water-and-sanitation (09.08.2022) Die Unicef (das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen) schätzt, dass im Jahr 2040 fast 600 Millionen Kinder in Gegenden ohne ausreichenden Zugang zum Wasser leben werden. Betroffen sind vor allem Menschen oder Familien in den ärmeren Regionen der Welt, vorwiegend in ländlichen Gebieten. Der Zugang zu sauberem Wasser und Hygiene ist überlebenswichtig, besonders für kleine Kinder. Daher lautet auch das sechste der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung „Wasser und Sanitärversorgung für alle“. Davon ist die Welt jedoch weit entfernt. Zwei Drittel der Erde sind von Wasser bedeckt, doch nur ein Drittel dieser gewaltigen Menge ist für die menschliche Nutzung überhaupt erreichbar. Lediglich 3% sind trinkbares Süßwasser. Dieses Trinkwasser ist zudem sehr ungleich verteilt. Besonders in Afrika, Lateinamerika und Asien herrscht vielerorts dramatische Wasserknappheit. Derzeit leben weltweit mehr als 1,42 Milliarden Menschen in Gebieten mit insgesamt hoher oder extrem hoher Wasserunsicherheit, darunter 450 Millionen Kinder. 137

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Quelle: URL: https://ourworldindata.org/explorers/water-and-sanitation (09.08.2022) Wasser muss jedoch nicht nur sauber, sondern auch „sicher“ sein. Dies bedeutet, dass es für die Menschen in der Nähe ihres Zuhauses zugänglich, bei Bedarf verfügbar und frei von Verunreinigungen ist. Speziell in den ärmeren Regionen der Erde ist verschmutztes Wasser aus Flüssen ein Problem. Dazu kommt, dass rund zwei Milliarden Menschen keine sicheren Sanitäranlagen nutzen. Krankheiten können sich dadurch leicht und schnell ausbreiten, was besonders gefährlich für kleine Kinder ist. Im Südsudan zum Beispiel forderte ein Cholera-Ausbruch seit Sommer 2016 über 400 Todesopfer. Laut Unicef sterben täglich mehr als 700 Kinder an vermeidbaren Krankheiten wie durch verunreinigtes Wasser oder mangelnde Hygiene hervorgerufener Durchfall. Auch sichere Geburten sind unter diesen Bedingungen kaum möglich. Jedes vierte Krankenhaus weltweit verfügte 2019 über kein ﬂießendes Wasser und keine Seife zum Händewaschen. 21% hatten keine einfachen Toiletten. Dabei ist Hygiene bei einer Geburt unerlässlich. Müssen Kinder weite Wege gehen, um Wasser für die Familie zu holen, verpassen sie oft die Chance, zur Schule zu gehen. Wenn Schulen aber kein sicheres Trinkwasser und keine Toiletten haben, können Kinder nicht in einer angemessenen, gesunden Umgebung lernen. Mädchen bleiben während ihrer Menstruation häuﬁg zuhause. 2019 hatten nur 69% der Schulen weltweit grundlegenden Zugang zu Trinkwasser und nur 66% hatten sanitäre Anlagen. Mehr als 900 Millionen Kinder haben an ihrer Schule keinen Zugang zu Hygiene. Besonders betroffen sind die Länder südlich der Sahara. Das sich verändernde Klima wirkt sich auch auf Niederschläge aus. So beeinﬂusst es Intensität, Dauer und Verteilung desselben über die Jahreszeiten hinweg. Dies wiederum beeinﬂusst die Menge und Qualität des Trinkwassers. Der Klimawandel verschärft die Wasserknappheit und verstärkt die Konkurrenz um die begrenzten Wasserressourcen. So werden künftig noch mehr Menschen gezwungen sein, in andere Gebiete zu ziehen. Unicef berichtet von weltweit 138

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rund 500 Millionen Kindern, die bereits jetzt aufgrund extremer Wetterereignisse wie Zyklone, Hurrikane und Stürme sowie des steigenden Meeresspiegels in Gebieten leben, die einem extrem hohen Überschwemmungsrisiko ausgesetzt sind.124 In diesem Sommer spürt auch die Bevölkerung der High Income-Länder die Auswirkungen des Klimawandels besonders. WissenschaftlerInnen sprechen von Wassernotstand, Hitzerekorde und Jahrtausenddürre. Sie beziehen sich dabei auf Ernteausfälle, auf Wasserrationierungen oder auf „Lake Mead“ (das einst größte künstliche Wasserreservoir der USA, das heute eine Wüstenlandschaft ist), auf Waldbrände in Südeuropa oder tote Fische in der Elbe, denen der Sauerstoff im Wasser fehlte. In Italien kämpfen die Menschen mit dramatischer Dürre, viele Flüsse und Seen im Norden des Landes verzeichnen historische Tiefststände. Inzwischen ist auch ein Streit um das Wasser des Gardasees ausgebrochen. Bewaffnete Konﬂikte, Krieg und Krisen verschärfen die Situation. Der bereits seit 11 Jahren andauernde Bürgerkrieg in Syrien verdeutlicht das: die Wasserversorgung ist in vielen Orten zusammengebrochen, Millionen Menschen sind betroffen. Auch in der Ukraine spitzt sich die Situation zu. Kritische Infrastruktur wurde in vielen Orten vollkommen zerstört, darunter auch Wassersysteme. Immer mehr Wissenschaftsinstitute, Universitäten und Unternehmen entwickeln Strategien gegen das Problem der Wasserknappheit. Meerwasserentsalzung Bereits seit 50 Jahren arbeiten ForscherInnen an Verfahren, Meerwasser zu entsalzen. Die häuﬁgste Methode ist die Umkehrosmose. Hier presst eine Hochdruckpumpe Meerwasser durch einen Filter und trennt Wasser und Salz. Die Pumpe zu betreiben ist energieintensiv. Die EU-Kommission fördert das Forschungsprojekt Wave20, deren WissenschaftlerInnen ein durch Solarenergie betriebenes Entsalzungsverfahren entwickelt haben. Der Entsalzungsvor- gang funktioniert ähnlich, nur die Anlage produziert autark Energie. Energieumwandler bewegen sich mit den Wellen und produzieren Strom, um die Pumpe zu betreiben. Auf hoher See wird das Meerwasser durch ein mehrstuﬁges Filtersystem geleitet und über eine Wasserleitung an Land gepumpt. Auf den Kapverden im Atlantik wurde das Verfahren bereits erfolgreich erprobt. Jede Anla- ge reinigt 4000 Kubikmeter Frischwasser pro Tag, genug für 40.000 Menschen. Außerdem werden durch die Entsalzung durch Wellenenergie 4000 Tonnen CO2 pro Jahr gespart. Die EU-Förderung ist abgeschlossen, das Team erprobt derzeit zwei Testanlagen in den USA und vor den Kanarischen Inseln.125 Die Umkehrosmose hat großes Potential. Sie eignet sich dazu, Gebiete, in denen Wassermangel herrscht, im großen Stil zu versorgen. Diese Art der Entsalzung ist allerdings auf küstennahe Regionen beschränkt. Es ist bislang nur schwer möglich, derart große Mengen Wasser über- oder unterirdisch zu transportieren. Bei der Entsalzung gibt es noch ein Problem: als Abfallprodukt entsteht eine hochkonzentrierte Salzlösung, die Sole, die bei unbedachter Entsorgung der Umwelt und den Meereslebewesen 139

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schadet. Und allein durch Entsalzung wird das Meerwasser nicht trinkbar. Es muss auch die Carbonathärte im Wasser wieder erhöht werden, wozu ebenfalls Energie notwendig ist. ForscherInnen des MIT (Massachusetts Institute of Technology) in den USA haben ein Verfahren entwickelt, das Meerwasser über ein elektrisches Feld leitet und es so von Salzen und Bakterien befreit. An den Innenseiten der Wasserleitung sind zwei Membranen, also dünne Trennschichten, befestigt, die durch die elektrische Spannung Schmutzpartikel abstoßen und in ein Abﬂussrohr leiten. Die restlichen Salzionen werden durch ein Elektrodialyseverfahren entfernt. Die Technik funktioniert ohne Filter und ist dadurch zuverlässiger und preisgünstiger, so der CEO des Start-ups Nona Technologies, die das Verfahren entwickelt hat. Die Entsalzungsanlage passt in einen Handkoffer, wiegt weniger als 10 Kilo und benötigt kaum Strom. Das Team hat an der Technik bereits 10 Jahre geforscht, nun gibt es einen Prototyp. Bislang kann pro Stunde ein Glas Wasser gereinigt werden. ForscherInnen glauben aber, dass sich die Technologie in den nächsten Jahren verbessern wird und die Entsalzung weltweit zunehmen wird. Es gibt Ideen, Entsalzungsanlagen mit Atomenergie zu betreiben und statt an Land auf den Meeren schwimmen zu lassen. So sollen künftig Inseln mit Hilfe solcher Schiffe mit Trinkwasser versorgt werden. Recycling von Wasser Jeder Deutsche verbraucht im Schnitt 127 Liter Wasser pro Tag. Bislang wurde verbrauchtes Wasser zwar geklärt, aber nur selten erneut eingesetzt. Membrantechnik könnte helfen, Ab- wasser in den Kreislauf zurückzuführen. Per Druckdifferenz wird Wasser durch die Membran geführt, die Feinpartikel, gelöste Moleküle und Salze herausgesiebt. Je nach Aufwand kann so aus Abwasser Trinkwasser gemacht werden. Seit 2003 wird das Verfahren im Stadtstaat Singapur angewandt. Das Filtern ist jedoch aufwendig und teuer. Eine Möglichkeit ist das Filtern des Abwassers durch Mikroorganismen im Grundwasser. Diese befreien das Abwasser von Schadstoffen. Die vorgeﬁlterte Flüssigkeit wird über Spezialbrunnen 50 Meter in die Tiefe gepumpt, dort strömt sie mit dem Grundwasser ca. 30 Kilometer weiter und wird währenddessen durch Mikroorganismen und Mineralien gesäubert. In Tel Aviv werden 90% des Abwassers auf diese Weise wiederverwendet. Bislang werden solche Verfahren zum Beispiel in Deutschland nicht zugelassen. Da jedoch der Grundwasserspiegel aufgrund des Klimawandels stetig sinkt, verändert sich die öffentliche Debatte. Deutschland bezieht 74% des Trinkwassers aus dem Grundwasser. Während 10% des Wassers in den Haushalten verbraucht wird, fallen 20% des Verbrauchs auf die Industrie und 70% des Wassers gehen in die Bewässerung von Feldern. In vielen Regionen werden zur Bewässerung Grundwasservorräte angezapft. WissenschaftlerInnen arbeiten weltweit an Recycling-Technologien. So gibt es bereits Projekte, bei denen Salat, Tomaten und Paprika nicht in der Erde, sondern in einer Nährlösung wachsen, um dem Kreislauf kein Frischwasser zuführen zu müssen. Künstliche Intelligenz wird eingesetzt, um ein Gleichgewicht zwischen maximalem Pﬂanzenwachstum und minimalem Ressourceneinsatz zu ﬁnden. Aber auch intelligentere Bewässerungssysteme und künstlich angelegte Dämme und Gräben könnten laut ExpertInnen künftig dabei helfen, mehr Feuchtigkeit im Boden zu speichern und 140

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damit den Wasserverbrauch zu reduzieren. Flächen zu entsiegeln und aufzuforsten, sodass wieder mehr Regenwasser versickern und ins Grundwasser gelangen kann, trägt ebenso bei. Regenwasser speichern Besonders in den Gebieten, in denen es häuﬁg genug regnet, ist es eine der einfachsten und effektivsten Möglichkeiten, Wasserknappheit zu verhindern, Regenwasser besser zu speichern. Bereits seit Tausenden von Jahren speichern Menschen Regenwasser in unterirdischen Zister- nen und Teichen. Diese Methode soll nun wiederbelebt werden. In Istanbul muss zum Beispiel auf jedem größeren Grund, auf dem ein Haus errichtet werden soll, ein unterirdischer Wasser- speicher gebaut werden, um Wasser für Trockenperioden zu speichern. In Kapstadt hat man begonnen, vermehrt Regenwasser über Häuserdächer zu sammeln. Die Aufbereitung dieses Wassers zu Trinkwasser kann helfen, Überﬂutungen zu verhindern und in der Landwirtschaft eingesetzt werden. Wasser ist also bereits weltweit zu einem knappen Gut geworden. Wasserknappheit betrifft nicht mehr nur die Entwicklungsländer, es hat sich zu einem globalen Problem entwickelt. Gleichzeitig wird Wasser zunehmend zum Wirtschaftsfaktor und zur Innovationsquelle. Unternehmen, die ihr Geld mit Wassertechnologie verdienen, proﬁtieren von der Situation und die Branche wird auch für Investoren immer interessanter. Bewusster Umgang mit Wasser Nicht zuletzt kommt es in den Entwicklungsländern immer wieder zu Wasserkrisen, die dem Konsum in der westlichen Welt geschuldet sind. Wasser steckt in beinahe allen Konsumgütern. Besonders viel Wasser geht in die Produktion von Fleisch und die dazu benötigten Futtermittel. Ein Kilo Rindﬂeisch verbraucht Studien zufolge mehr als 15.000 Liter Wasser. Auch die Her- stellung und das Einfärben von Baumwolle und damit von Kleidung verbraucht große Mengen Wasser, oft massiv mit Schadstoffen belastet. Der Konsum von Gemüse, Fleisch und Obst aus Regionen mit Wasserknappheit ist ebenso problematisch. Den eigenen Konsum zu überdenken und auch im Haushalt Wasser zu sparen (tropfende Wasserhähne reparieren, Waschmaschine nur voll benutzen, Pﬂanzen gießen mit Regenwasser etc.) kann den Wasserfußabdruck des Einzelnen stark minimieren. Die Verhinderung künftiger Wasserknappheit hängt laut ExpertInnen aber auch von einer Reihe anderer Faktoren ab. Es kommt darauf an, wie gut Länder und Regionen künftig miteinander kooperieren, wenn es um Wasservorräte geht, wie gut die Bewusstseinsbildung in der Bevölke- rung funktioniert, wie streng Unternehmen bei der Wassernutzung kontrolliert werden und wer überhaupt Zugang zu Wasserressourcen bekommt. 141

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15. Resilienz statt Efﬁzienz (25.08.2022) Während der industriellen Revolution gelangte man zu der Erkenntnis, dass Prozessinnovationen Verschwendung reduzierten und die Produktivität erhöhten. Der Einsatz neuer Technologien wirkte sich ebenfalls positiv auf die Efﬁzienz aus. Schon 1776 wies Adam Smith in seinem Werk „Der Wohlstand der Nationen“ nach, dass ein Unternehmen deutlich produktiver sein kann, wenn es Arbeit klug aufteilt und nicht jeden einzelnen Arbeiter ein Produkt von Anfang bis Ende fertigstellen lässt. David Ricardo führte diese Gedanken in seinem Buch „Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung“ 1817 weiter aus und entwickelte die Theorie der komparativen Kostenvorteile. Bis heute wird die Betriebswirtschaftslehre als Wissenschaft betrachtet, die dazu dient, Wirt- schaftsunternehmen efﬁzienter zu machen. Es gilt, die Verschwendung von Zeit, Material oder Kapital völlig zu vermeiden. Verkörpert wird der Glaube an die Efﬁzienz durch multilaterale Organisationen wie die Welthandelsorganisation, die auf efﬁzienteren Handel abzielt. ÖkonomInnen wie Roger L. Martin jedoch geben seit einigen Jahren zu bedenken, dass das zielgerichtete Streben nach Efﬁzienz viele Probleme mit sich bringen kann. Unternehmen sollten genauso viel Wert auf Anpassung legen. Gemäß Martin vereinen Unternehmen, die durchweg efﬁzienter arbeiten, einen immer größeren Anteil der Gewinne auf sich. So können sie den Markt stärker in ihrem Sinne beeinﬂussen. Mit der Zeit kommt es innerhalb einer Branche zur Konsolidierung, die von einem einzigen dominanten Geschäftsmodell getrieben wird. Eine solche Entwicklung birgt ein enormes Risiko von katastrophalen Fehlschlägen und erhöht die Wahrscheinlichkeit von Missbrauch.126 Das hohe Maß an Spezialisierung führt zu einer immer größeren Marktmacht der efﬁzientesten Unternehmen. Die hohen Gewinne ﬂießen an eine kleiner werdende Anzahl von Unternehmen und Menschen, was keine nachhaltige Entwicklung darstellt. So ist es möglich, dass superefﬁ- ziente Unternehmen das Potenzial für soziale Verwerfungen mit sich bringen. Die Vorteile, die durch die Efﬁzienz entstehen, werden mit ihrem Anstieg zunehmend ungleich verteilt. Das Wirtschaftssystem ist abhängig von globalem Handel und Multilateralismus (siehe den Newsletter „Die Notwendigkeit des Multilateralismus” 04.08.2022). Aufgrund der teils schwer- wiegenden Auswirkungen der globalen Bedrohungen (Klimawandel, Versorgungsengpässe, Pandemien, bewaffnete Konﬂikte und Krieg, Zunahme autokratischer Staaten etc.) auf die Wirt- schaft halten viele WirtschaftswissenschaftlerInnen einen Paradigmenwechsel für notwendig. Nach Martin müssen Manager, Regierungen und Bildungseinrichtungen ihren Fokus deut- lich stärker auf die Resilienz von Unternehmen legen. Dazu gehören die Begrenzung der Unternehmensgrößen sowie die Einführung von Hemmnissen im Welthandel und auf den Kapi- talmärkten. Zudem sollten langfristig orientierte Anleger einen größeren Einﬂuss auf strategische Entscheidungen erhalten, Arbeitsplätze sollten mehr Qualiﬁzierungsmöglichkeiten bieten und Bildungseinrichtungen sowohl Efﬁzienz- als auch Resilienzdenken lehren. 143

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Die Trendstudie „Zukunftskraft Resilienz – Gewappnet für die Zeit der Krisen“127 vom deutschen Think Tank „Zukunftsinstitut“ kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass die multiplen Krisen des 21. Jahrhunderts Planet, Mensch, Gesellschaft und Wirtschaft akut gefährden. Ein Umschwen- ken auf eine Form von Resilienz, die eine dynamische Bewältigung von Krisen ermöglicht, ist daher unerlässlich. Im Zentrum der Studie stehen vier Thesen. These 1: Die globalen Krisen sind Treiber eines ökologischen Anthropozäns. Dies bedeutet, dass das Überleben auf der Erde trotz menschengemachten Klimawandels nur durch Stärkung der planetaren Resilienz zu erreichen ist. Dazu müssen Ressourcen geschützt (ökonomische und soziale Strategien für klimastabile Entwicklung), Städte gestärkt (Verhinderung urbaner Zersiedelung, Dekarbonisierung der Stromversorgung, grüne Alternativen im Bausektor) und Mobilität modernisiert (Autofreie Zonen, Ausbau öffentlicher Verkehr, fahrradfreundliche Städte) werden. Weiters kann aktives Handeln im Sinne des Umweltschutzes die persönliche Resilienz stärken. These 2: Resonanz wird zur Leitmaxime des spätmodernen Individuums. Auf die Ära der Selbstoptimierung folgt eine Epoche der Resonanz in der sich jeder Mensch als soziales Wesen begreift. Dazu müssen Achtsamkeit gefördert (achtsamer Arbeitsalltag, gesundes und produktives Arbeitsklima), Wir-Kultur gepﬂegt (Verortung des Individuums in Gemeinschaften) und Kreativität ermöglicht werden. Individuelle, organisationale und gesellschaftliche Resilienz müssen stehts zusammen gedacht werden und Unternehmen müssen Strukturen schaffen, um Resilienz für Menschen, die Organisation und die Gesamtgesellschaft zu ermöglichen. These 3: Eine resiliente Gesellschaft fordert und fördert ein progressives Wir. Dazu müssen Begegnungsräume geschaffen (Verständnis für unterschiedliche Perspektiven, Meinungen und Erfahrungen fördern), Kompetenzen gefördert (Angebot von Schulungen, Weiterbildungsmaßnahmen etc.) und Wissensnetzwerke gebildet werden (kollektive Intelligenz erhöhen und so Innovationen ermöglichen). Partizipation wird ermöglicht und die gesellschaft- liche Resilienz durch Verbindungen zwischen verschiedenen Gesellschaftssphären erhöht. Kooperationen zwischen Unternehmen, Organisationen und Institutionen stärken die organisa- tionale Resilienz, besonders im Hinblick auf Krisenfälle. These 4: Die nächste Ökonomie zielt auf Resilienz statt Efﬁzienz. Im Kontext multipler Krisen wird systemische Anpassungsfähigkeit wichtiger als die Aufrecht- erhaltung des Regelbetriebs. Resiliente Unternehmen sind nicht maximal efﬁzient, sondern maximal verantwortungsbewusst und generationengerecht. Dazu braucht es Mitarbeitende, die Eigenverantwortung übernehmen und Führungskräfte die Verantwortung abgeben können. Wichtig ist dabei der Faktor Diversität: Unternehmen, die vielfältig aufgestellt sind hinsichtlich Alter, Geschlecht, Herkunft oder Qualiﬁkationen, können besser auf Störungen und Veränderungen reagieren. Richtungsweisend sind dabei gemeinsam geteilte Werte und Denkweisen: die Vision des 144

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Unternehmens, die Frage nach seinem Warum und Wofür, nach den positiven Veränderungen, die es anstrebt. Die Frage nach dem Sinn und Zweck des Wirtschaftens rückt ins Zentrum. Der Fokus liegt mehr denn je auf gesellschaftlichen und ökologischen Mehrwerten. Vor diesem Hintergrund müssen Unternehmen ihre bisherigen Praktiken hinterfragen und bessere Problemlösungen für sämtliche Stakeholder entwickeln. Das systemische Wissen um die Entwicklung von Kundenwünschen, Kernkompetenzen, Wettbewerbsumfeldern und die eigene Positionierung im Markt wirkt dabei wie ein Frühwarnsystem. Im Kern beruht die Resilienz eines Unternehmens auf den Menschen, mit denen es verbunden ist. Zentral ist der Aufbau einer Vertrauenskultur, die das Prinzip der Selbstorganisation und die Kultivierung jener Metaskills fördert, aus denen komplexe Zukunftskompetenzen erwachsen – von Kreativität und Adaptionsfähigkeit bis zu Kooperationsbereitschaft und Eigenverantwortung. „HR“ wird künftig vor allem für „Human Relations“ stehen.128 In ihrem Artikel „The New Resilience Paradigm”129 schreiben Anthea Roberts und Jensen Sass vom Untergang des Neoliberalismus, die Annäherung an den „Produktivismus“, der sich auf den Arbeitsmarkt und Lokalismus konzentriert und zugleich die Infragestellung desselben. Alles deute demnach auf einen Paradigmenwechsel hin, der Resilienz über Efﬁzienz stellt. Während die freie Marktwirtschaft ein Segen für das Wirtschaftswachstum war, kam er vor allem den Industrieländern zugute und schadete den bereits vulnerablen Gruppen im Wirt- schaftssystem. Unentdeckt für viele Jahre kumulierten die Unzufriedenheiten in populistischen Bewegungen. Die Globalisierung der Wirtschaft reduzierte zwar die Ungleichheit zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern, vergrößerte aber auch den geostrategischen Wettbewerb, besonders zwischen China und den USA. Das neoliberale Paradigma vermehrte den Reichtum, aber auch die CO2-Emissionen. Kurzzeit- Efﬁzienz ist nicht nachhaltig und maximiert die Auswirkungen auf Menschen und Gesellschaft. Roberts und Sass befürworten ein Konzept, das gemessen und angepasst werden kann und den Fokus weg von individuellen Entscheidungen hin auf langfristige, nachhaltige Entscheidungen für das ganze System legt. Beispiele sind die Abkehr von der exzessiven Festlegung auf eine einzige Messgröße wie das Bruttoinlandsprodukt oder kurzfristige Renditen. Das neue Paradig- ma versucht eine Balance zwischen Diversiﬁkation und Konzentration, zwischen Unabhängigkeit und Abhängigkeit zu ﬁnden. Wie auch für den von vielen ÖkonomInnen wie Dani Rodrik angedachte Produktivismus130 ist es für einen vollwertigen Paradigmenwechsel basierend auf Resilienz noch etwas zu früh, aber das Konzept beinhaltet bereits jetzt bemerkenswertes Intellektuelles Potenzial, das quer durch eine Vielzahl von Disziplinen entwickelt wurde und in verschiedensten Bereichen anwend- bar ist. Es ist zentraler Bestandteil in der Klimaschutzpolitik, im Katastrophenmanagement und bei der Forschung nachhaltiger Entwicklungen. StädteentwicklerInnen wenden es an, um Städte zu designen, die der Klimainstabilität widerste- hen können. EntwicklungsforscherInnen überlegen damit, wie sich bestimmte Gruppen für den Katastrophenfall wappnen können (z.B. Erhaltung der Notversorgung und kritischen Infrastruktur während extremer Wettersituationen oder feindlicher Angriffe). 145

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16. Arbeitszeitmodell neu (29.09.2022) Die letzten fast drei Jahre der Pandemie brachten mehr Veränderungen in der Arbeitswelt als die gesamten zehn Jahre zuvor. Ein Bereich dieser Veränderungen ist die viel diskutierte Vier-Tage-Woche, bei der die Arbeitswo- che um einen Tag reduziert wird. Die Mitarbeiter bekommen dadurch einen zusätzlichen freien Tag zur Verfügung. In den meisten Staaten wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts die Fünf-Tage-Woche anstatt der Sechs-Tage-Woche als Normalarbeitszeit eingeführt. Seit einigen Jahren wird ihre Sinnhaftigkeit und Zeitgemäßheit aufgrund breiter gesellschaftlicher Unterstützung für insbesondere ﬂexiblere Arbeitszeiten zunehmend infrage gestellt.131 Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern schlug 2020 die Einführung einer Vier-Tage- Woche vor, um die Work-Life-Balance und den inländischen Tourismus nach der COVID-19- Pandemie zu fördern. Auch in Großbritannien läuft seit Juni 2022 bis zum Jahresende ein Versuch, der 70 Unter- nehmen und mehr als 3.300 ArbeiterInnen und Angestellte betrifft. Sie arbeiten bei 100% ihres Gehalts nur 80% der üblichen Zeit. Die Zwischenberichte sind positiv. Im Rahmen einer Studie aus Island sollten 2.500 Bürger fünf Jahre lang bei gleichbleibender Bezahlung statt fünf nur vier Tage lang in der Woche arbeiten. Die Teilnehmer hatten mehr Zeit für sich und nahestehende Personen, waren glücklicher und litten weniger häuﬁg unter Stress. Das neuseeländische Nachlassplanungsunternehmen Perpetual Guardian testete 2018 eine Vier-Tage-Woche und meldete einen Produktivitätsanstieg von 20% sowie ein geringeres Stress- niveau und eine größere Arbeitszufriedenheit bei seinen Mitarbeitern. Laut dem Gründer des Unternehmens bringe die verkürzte Arbeitswoche „keine Nachteile“ mit sich. Später im selben Jahr führte Perpetual Guardian die Vier-Tage-Woche dauerhaft ein. 2019 experimentierte Microsoft Japan mit der Vier-Tage-Woche und gab an, dass die Produktivi- tät um 40% zunahm und die Stromkosten um 23% sanken.132 Immer mehr Menschen wünschen sich dieses neue Arbeitszeitmodell. Eine Befragung im Auftrag der Versicherung HDI von 3.891 ArbeitnehmerInnen ab 15 Jahren, zeigt auf, dass fast 63% der Deutschen das Konzept der Vier-Tage-Woche bei vollständigem Lohnausgleich begrüßen würden, 14% auch ohne Ausgleich.133 In der Industrie und Fertigung würde jeder Vierte (24%) zustimmen, bei Umstellung auf eine Vier-Tage-Woche nicht den vollständigen Lohnausgleich zu erhalten. 147

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Quelle: URL: wiwo.de (27.09.2022) Besonders deutlich fällt die Zustimmung bei ArbeitnehmerInnen aus, die jünger als 40 Jahre sind. 83% stehen dem neuen Arbeitszeitmodell positiv gegenüber. Für 17% wäre das Modell auch mit ﬁnanziellen Einbußen annehmbar. Das Angebot, in Teilzeit zu arbeiten, würden 51% annehmen. Durch die Erfahrungen in der Pandemie sind sich 48% der unter 40jährigen einig, dass das mobile Arbeiten die Qualität der Arbeitsergebnisse verbessere. Bei den über 40jährigen sind es 33%. Für die junge Arbeitnehmergeneration hat die Bedeutung des Arbeitsplatzes abgenommen und die Balance zwischen Arbeit und Privatleben an Relevanz gewonnen. So sagten 58% der unter 25jährigen, dass sie sich ein Leben ohne Beruf nicht vorstellen könnten, 2020 waren es noch 69% gewesen. 148

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Quelle: URL: wiwo.de (27.09.2022) ExpertInnen sehen in den Ergebnissen der Umfrage den Beleg des raschen Wandels der Arbeitswelt. im Gegensatz zu den Anforderungen Die Erwartungen der ArbeitnehmerInnen stehen dabei des Arbeitsmarkts. Nach Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) gab es im zweiten Quartal dieses Jahres 1,9 Millionen offene Stellen, so viele wie noch nie seit Beginn der Erhebungen. Angespannt ist die Personalsituation demnach in Krankenhäusern und Pﬂegeeinrichtungen, aber auch Handwerk und IT-Branche melden viele offene Stellen.134 Tatsächlich steht die Arbeitswelt vor radikalen Umbrüchen. Für Produktivitätsgewinne verantwortlich sind vor allem die vielfältigen Formen der Digitalisie- rung. Die Produktivitätsgewinne aus dem digitalen Arbeiten verlangen aber auch Investitionen in neue Arbeitsweisen, das Aneignen von Tools und damit auch neue Anforderungen an alle ArbeitnehmerInnen. In vielen Betrieben sind oft vier Generationen tätig, die notwendigen Lernprozesse brauchen unterschiedliche Räume und Zeit. Selbstüberforderung und Isolation durch die hohe Autonomie in der Arbeitsgestaltung wird dadurch ebenso zum Thema wie das Fehlen von sozialen Begegnungen. Geringe Bindung und Verbundenheit zu KollegInnen im Unternehmen kann zu unerwünschter Fluktuation beitragen. Berufe im direkten Produktionsprozess, im Bereich Erziehung oder Gesundheit, viele Tätigkeiten im Handel, Gewerbe und Tourismus sind an ﬁxe Arbeitszeiten gebunden. Eine Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich kann vielfach vorerst nur ein Projekt zwischen Arbeitgebern und ArbeitnehmerInnen sein. Arbeitszeitverkürzungen machen hier neue Arbeitskapazitäten notwen- 149

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dig, in den meisten dieser Branchen besteht jedoch bereits jetzt akuter Personalmangel.135 Dennoch scheint nur logisch zu sein, dass besser ausgeruhte, weniger gestresste MitarbeiterIn- nen weniger Fehler machen, weniger krank sind und viel ihrer Arbeit in weniger Zeit schaffen. Die kürzere Arbeitszeit der Vier-Tage-Woche animiert in den Betrieben dazu, Arbeitsabläufe zu optimieren. Die Vier-Tage-Woche hat natürlich auch Auswirkungen auf das Freizeitverhalten der Arbeitneh- merInnen. Die zusätzliche Zeit kann mit neuen Hobbies, FreundInnen oder der Familie verbracht werden. Dabei geht es aber auch um die Betreuung von Kindern oder älteren Angehörigen. Diese wertvolle Arbeit wird nicht entlohnt. Unter den heutigen Arbeitszeitregeln hält die un- bezahlte Care-Arbeit meist Frauen von bezahlter Vollzeitarbeit ab. Dies sorgt, gerade auch in Österreich, für niedrigere Einkommen, weniger Sozialhilfeansprüche in Notzeiten, Altersarmut und Abhängigkeiten vom (erwerbstätigen) Partner.136 Quelle: URL: https://www.moment.at (27.09.2022) Qualität kann als Teil einer neuen Arbeitskultur nur sichergestellt werden, wenn Kompromiss- und Konsensmodelle erarbeitet werden, die den Ansprüchen von KundInnen, MitarbeiterInnen und Unternehmen entsprechen. Dazu gehören Rahmenbedingungen wie unter anderem Durch- rechnungszeiträume, Gleitzeitsalden, Vereinbarungskultur und Homeofﬁce. 150

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1URL: october-2021?cid=nl-com-ﬂagsurv-fall21_100 (23.11.2021) https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2021/10/12/world-economic-outlook- 2URL: weltwirtschaft-prognose (23.11.2021) https://www.zeit.de/wirtschaft/2021-10/iwf-internationaler-waehrungsfond-wachstum- 3URL: october-2021?cid=nl-com-ﬂagsurv-fall21_100 (23.11.2021) https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2021/10/12/world-economic-outlook- 4URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Taylor-Regel (20.12.2021) 5URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Tapering (20.12.2021) 6URL: inﬂation-by-sebnem-kalemli-ozcan-2022-01/german (12.01.2022) https://www.project-syndicate.org/commentary/ﬂawed-economic-theory-driving-turkey- 7URL: inﬂation-by-sebnem-kalemli-ozcan-2022-01/german (12.01.2022) https://www.project-syndicate.org/commentary/ﬂawed-economic-theory-driving-turkey- 8URL: senkt-erneut-den-leitzins-lira-faellt-auf-rekordtief-/27899362.html (20.12.2021) https://www.handelsblatt.com/ﬁnanzen/geldpolitik/geldpolitik-die-tuerkische-zentralbank- 9URL: inﬂation-by-sebnem-kalemli-ozcan-2022-01 (20.12.2021) https://www.project-syndicate.org/commentary/ﬂawed-economic-theory-driving-turkey- 10URL: https://en.wikipedia.org/wiki/Build_Back_Better_Plan (01.02.2022) 11Siehe Newsletter vom 20.01.2022: „Chinas Probleme mehren sich“, URL: https://www. tradecomag.com/upload/ﬁles/news/chinas-probleme-mehren-sich.pdf (01.02.2022) 12URL: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/ukraine-krieg-konjunkturelle- auswirkungen-101.html (01.03.2022) 13URL: https://www.focus.de/ﬁnanzen/boerse/konjunktur/wirtschaftliche-folgen-im-ueberblick-gas- weizen-tech-5-bereiche-in-denen-wir-den-ukraine-krieg-spueren-werden_id_60683651.html (01.03.2022) 14URL: https://www.manager-magazin.de/politik/deutschland/ukraine-krise-welche- konsequenzen-wir-jetzt-ziehen-muessen-a-fae8912e-089f-4433-8c66-75400e325e35 (01.03.2022) 15URL: https://www.project-syndicate.org/commentary/economic-consequences-of-ukraine-war- by-jason-furman-2022-02?barrier=accesspaylog (01.03.2022) 16Ademmer, Martin; Boysen-Hogrefe, Jens et al. „Kieler Konjunkturberichte: Deutsche Wirt- schaft im Frühjahr 2022“. Nr. 89 (2022/Q1), Forschungszentrum Konjunktur und Wachstum (Hg.), 17.03.2022. URL: https://www.ifw-kiel.de/ﬁleadmin/Dateiverwaltung/IfW-Publications/-ifw/ Konjunktur/Prognosetexte/deutsch/2022/KKB_89_2022-Q1_Deutschland_DE.pdf (22.03.2022) 17URL: https://www.handelsblatt.com/politik/international/weltwirtschaft-hauptverlierer-wird- deutschland-sein-so-gefaehrdet-ist-das-erfolgsmodell-der-deutschen-wirtschaft/28173944.html (22.03.2022) 18Professor für Volkswirtschaftslehre und Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung 153

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19URL: https://www.handelsblatt.com/politik/international/weltwirtschaft-hauptverlierer-wird- deutschland-sein-so-gefaehrdet-ist-das-erfolgsmodell-der-deutschen-wirtschaft/28173944.html (22.03.2022) 20URL: https://www.handelsblatt.com/ﬁnanzen/geldpolitik/ukraine-krieg-was-fuer-eine-stagﬂation- spricht-und-welche-konsequenzen-sie-haette/28226856.html (05.04.2022) 21URL: https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastkommentar-wird-stagﬂation-die- naechsten-jahre-praegen/28172670.html (05.04.2022) 22URL: https://www.ecb.europa.eu/press/pressconf/visual-mps/2022/html/mopo_statement_ explained_march.de.html (05.04.2022) 23Bachmann, Rüdiger, Baqaee, David et.al.: „What if? The Economic Effects for Germany of a Stop of Energy Imports from Russia“. März 2022. ECONtribute Policy Brief No. 028. URL: https: //www.econtribute.de/RePEc/ajk/ajkpbs/ECONtribute_PB_028_2022.pdf (19.04.2022) 24Bachmann, Rüdiger, Baqaee, David et.al.: „What if? The Economic Effects for Germany of a Stop of Energy Imports from Russia“. März 2022. ECONtribute Policy Brief No. 028. URL: https: //www.econtribute.de/RePEc/ajk/ajkpbs/ECONtribute_PB_028_2022.pdf (19.04.2022) 25Marin, Dalia: „What If Germany Boycotts Russian Energy?“ 15. April 2022 URL: https://www.project-syndicate.org/commentary/germany-estimated-costs-of-russian-energy- embargo-by-dalia-marin-2022-04/german (19.04.2022) 26Blume, Jakob. Fröndhoff, Bert. et al.: „Welche Folgen ein Energieboykott für die deutsche In- dustrie hat – und für Russland“ 8. April 2022. Handelsblatt. URL: https://www.handelsblatt.com/ unternehmen/industrie/versorgungskrise-welche-folgen-ein-energieboykott-fuer-die-deutsche- industrie-hat-und-fuer-russland/28235214.html (19.04.2022) 27Matthes, Sebastian: „Was in der Debatte über ein Gas-Embargo zu oft übersehen wird“. 8. April 2022. Handelsblatt. URL: https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/editorial-was-in- der-debatte-ueber-ein-gas-embargo-zu-oft-uebersehen-wird/28238228.html (19.04.2022) 28URL: https://www.handelsblatt.com/ﬁnanzen/geldpolitik/rezession-einfach-erklaert-was-ist-eine- rezession-deﬁnition-beispiele-und-hintergruende/28423984.html (30.08.2022) 29URL: https://www.ifo.de/DocDL/sd-2022-06-Sonderausgabe-Juni-.pdf (30.08.2022) 30URL: https://www.handelsblatt.com/politik/international/g7-gipfel-in-elmau-die-angst-vor-der- weltrezession/28457436.html (30.08.2022) 31URL: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/konjunktur/hohe-kosten-fuer-energie-und- lebensmittel-andrew-bailey-alarmiert-18036929.html (30.08.2022) 32URL: https://www.project-syndicate.org/commentary/reasons-for-continued-us-dollar-strength- against-euro-and-yen-by-kenneth-rogoff-2022-08?barrier=accesspay (06.09.2022) 33Hulverscheidt, Claus. „Dollar-Rausch mit Katergarantie“, Süddeutsche Zeitung: 30.08.2022. https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/usa-dollar-devisenmarkt-konjunktur-1.5647242 URL: (06.09.2022) 34Sackmann, Christoph. „Warum der starke US-Dollar die globale Wirtschaftskrise immer weiter 154

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verschärft“. Focus online: 29.07.2022. URL: https://www.focus.de/ﬁnanzen/boerse/devisen/nicht- nur-der-euro-schwaechelt-warum-der-starke-us-dollar-die-globale-wirtschaftskrise-immer- weiter-verschaerft_id_124886220.html (06.09.2022) 35Eine harte Landung ist der plötzliche Umschlag in eine Rezession oder Stagnation nach einer längeren Phase des Wirtschaftswachstums. 36Robb, Greg. “Fed’s Powell says a “softish landing” for U.S. economy is plausible.” Market- watch.com, 17.05.2022.URL: https://www.marketwatch.com/story/powell-says-a-softish-landing- for-u-s-economy-is-plausible-11652812959 (11.10.2022) 37Wallace, Alicia. “Fed Chair Jerome Powell says ‘some pain’ is on the horizon. Here’s what that means.” CNN online. 30.08.2022.URL: https://edition.cnn.com/2022/08/30/economy/fed-jerome- powell-pain-economy/index.html (11.10.2022) 38Roubini, Nouriel. “The Stagﬂationary Debt Crisis is Here”. Project Syndicate. 03.10.2022. URL: https://www.project-syndicate.org/commentary/stagﬂationary-debt-crisis-is-here-by-nouriel- roubini-2022-10/german (11.10.2022) 39Presse online. “OECD Prognose: Kaum noch Wachstum in Europa“. Die Presse. 26.09.2022. URL: https://www.diepresse.com/6194708/oecd-prognose-kaum-noch-wachstum- in-europa (11.10.2022) 40URL: https://www.bankofengland.co.uk/news/2022/october/boe-widens-gilt-purchase- operations-to-include-index-linked-gilts (11.10.2022) 41Roubini, Nouriel. “Russia’s War and the Global Economy”. Project Syndicate. 25.02.2022. URL: https://www.project-syndicate.org/onpoint/russias-war-and-the-global-economy-by-nouriel- roubini-2022-02 (11.10.2022) 42URL: https://www.imf.org/en/publications/weo (18.10.2022) 43URL: https://www.nachrichten.at/wirtschaft/duestere-prognose-das-schlimmste-kommt-erst- noch;art15,3725678 (18.10.2022) 44URL: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/iwf-prognose-fuer-2023-fuer-deutsche-wirtschaft- besonders-schlecht-18379096.html (18.10.2022) 45URL: https://www.credit-suisse.com/about-us/en/reports-research/global-wealth-report.html (08.11.2022) 46Das BIP pro Kopf liegt in den USA im Jahr 2021 bei USD 61.280, das Pro-Kopf-Vermögen ist also knapp 10mal so hoch. 47URL: https://www.businessinsider.de/wirtschaft/ﬁnanzen/das-bedeutet-das-vorgehen-der-ezb- fuer-eure-investments-in-aktien-und-krypto-und-die-preise-im-alltag/ (08.02.2022) 48URL: https://www.handelsblatt.com/ﬁnanzen/anlagestrategie/trends/geldpolitik-die-zinswende- verschreckt-die-maerkte-gesund-und-notwendig/27953092.html?ticket=ST-9534371- NKU0uﬁUCfZNe31GHXFA-ap3 (08.02.2022) 49URL: https://www.project-syndicate.org/commentary/fed-interest-rate-policy-will-cut-into-wages- by-james-k-galbraith-2022-01?barrier=accesspaylog (08.02.2022) 155

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50URL: https://www.trendingtopics.eu/digital-dollar-usa/ (15.02.2022) 51URL: (15.02.2022) https://www.federalreserve.gov/newsevents/pressreleases/other20220120a.htm 52URL: https://www.project-syndicate.org/commentary/us-federal-reserve-digital-dollar- cryptocurrency-regulation-by-kenneth-rogoff-2022-02 (15.02.2022) 53Das Web 3.0 wird auch als das Semantische Web, aus dem Englischen „Semantic Web“, be- zeichnet. Im Web 3.0 ist es notwendig, dass die Informationen, die die Menschen ins Internet stel- len, von Maschinen ausgewertet werden können. War es im Web 2.0 wichtig, dass Nutzer eigene Inhalte generierten, wird im Web 3.0 der Schwerpunkt darauf gelegt, dass die von den Nutzern generierten Informationen nun mit einer Beschreibung versehen werden, die in ihrer Bedeutung eindeutig ist. Diese Semantik soll von Computern verarbeitet werden können. Wenn die Maschi- ne die Informationen des Web 3.0 nutzen kann, ist es möglich, diese interessierten Nutzern, die nach den jeweiligen Informationen suchen, in Form einer Abfrage zugänglich zu machen. Mit Hilfe des Web 3.0 können dann Informationen z.B. über Länder, Menschen oder Dinge mitein- ander in Bezug gesetzt werden. So könnte eine Abfrage zum Thema historisches Gebäude in Köln zur Antwort Kölner Dom führen. URL: https://www.seo-analyse.com/seo-lexikon/w/web-3-0/ (15.02.2022) 54URL: https://de.cointelegraph.com/news/sen-elizabeth-warren-calls-crypto-the-new-shadow- bank (15.02.2022) 55Cünnen, Andrea, Greive, Martin, et al. „Die Zinsan- stiege sind dramatisch“. Han-delsblatt. 24.06.2022. URL: https://www.handelsblatt.com/ ﬁnanzen/geldpolitik/maerkte-in-angst-die-rueckkehr-der-euro-krise-die-zinsanstiege-sind- dramatisch/28447392.html (28.06.2022) “Die Rückkehr der Euro-Krise: 56Cünnen, Andrea, Greive, Martin, et al. „Die Zinsan- stiege sind dramatisch“. Han-delsblatt. 24.06.2022. URL: https://www.handelsblatt.com/ ﬁnanzen/geldpolitik/maerkte-in-angst-die-rueckkehr-der-euro-krise-die-zinsanstiege-sind- dramatisch/28447392.html (28.06.2022) “Die Rückkehr der Euro-Krise: 57URL: https://www.handelsblatt.com/ﬁnanzen/geldpolitik/geldpolitik-zinsanhebungen-der-ezb- sind-uebertrieben-kritik-am-jumbo-zinsschritt-wird-lauter/28672268.html (13.09.2022) 58URL: https://www.handelsblatt.com/ﬁnanzen/geldpolitik/geldpolitik-zinsanhebungen-der-ezb- sind-uebertrieben-kritik-am-jumbo-zinsschritt-wird-lauter/28672268.html (13.09.2022) 59Anleihen kürzerer Laufzeiten werfen mehr Rendite ab als die mit längerer Laufzeit 60Eberan, Alexander. in Richtung Rezession“. Wienerzei- tung.at. 23.04.2022.URL: https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/2145038-Die- US-Zinsentwicklung-deutet-in-Richtung-Rezession.html (13.09.2022) „Die US-Zinsentwicklung deutet 61URL: https://www.handelsblatt.com/ﬁnanzen/geldpolitik/waehrung-japan-greift-am- devisenmarkt-ein-der-yen-unterbricht-seinen-absturz/28762328.html (31.10.2022) 62Acemoglu, Daron. „The Supply Chain Mess“. Project Syndicate, 02.12.2021. URL: https://www.project-syndicate.org/commentary/us-supply-chain-mess-incentives-for-offshoring- by-daron-acemoglu-2021-12 (07.12.2021) 156

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63URL: https://theclimatechoice.com/de/ (07.12.2021) 64Acemoglu, Daron. „The Supply Chain Mess“. Project Syndicate, 02.12.2021. URL: https://www.project-syndicate.org/commentary/us-supply-chain-mess-incentives-for-offshoring- by-daron-acemoglu-2021-12 (07.12.2021) 65Der Anglizismus Just-in-time-Produktion (kurz just in time, JIT; deutsch „gerade zur rechten Zeit“) oder auch bedarfssynchrone Produktion bezeichnet in der Produktionswirtschaft ein logistikori- entiertes, dezentrales Organisations- und Steuerungskonzept,[1] bei dem nur das Material in der Stückzahl und zu dem Zeit-punkt geliefert und produziert wird, wie es auch tatsächlich zur Erfül- lung der Kundenaufträge benötigt wird.URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Just-in-time-Produktion (08.12.2021) 66URL: https://www.nzz.ch/wirtschaft/das-lange-warten-wo-die-groessten-probleme-fuer-die- internationalen-lieferketten-sind-ld.1654080?reduced=true (08.12.2021) 67URL: https://www.eurotransport.de/artikel/weiter-stau-bei-containerschiffen-analyse-lieferketten- bis-ende-2022-gestoert-11192774.html (08.12.2021) 68URL: https://theclimatechoice.com/de/3-tipps-zum-risikomanagement-in-der-globalen- lieferkette/ (08.12.2021) 69URL: https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/chinesischer-corona-impfstoff-im-kampf-gegen- omikron-unzureichend-17709401.html (18.01.2022) 70URL: https://www.handelsblatt.com/politik/konjunktur/nachrichten/konjunktur-gravierendes- problem-fuer-globale-lieferketten-chinas-rigide-coronapolitik-gefaehrdet-welthandel/27982634. html (18.01.2022) 71Medium-Term Lending Facility 72URL: https://www.handelsblatt.com/ﬁnanzen/geldpolitik/geldpolitik-chinas-notenbank-senkt- ueberraschend-einen-schluesselzins-konjunktur-kuehlt-sich-ab/27981192.html (18.01.2022) 73Loan Prime Rate (China Libor) 74URL: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/corona-pandemie-omikron-bedroht-chinas- wirtschaft-17730112.html (18.01.2022) 75URL: https://eige.europa.eu/de/taxonomy/term/1175 (08.03.2022) 76URL: https://eige.europa.eu/thesaurus/terms/1168?lang=de (08.03.2022) 77URL: https://www.bundeskanzleramt.gv.at/agenda/frauen-und-gleichstellung/frauenrechte-und- gleichstellung-in-der-eu.htm (08.03.2022) 78URL: https://eige.europa.eu/ (08.03.2022) 79URL: https://eige.europa.eu/publications/gender-equality-index-2021-report (08.03.2022) 80URL: (08.03.2022) https://eige.europa.eu/gender-equality-index/2021/compare-countries/index/map 81URL: https://unric.org/de/ipcc280202022/ (15.03.2022) 157

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82URL: https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg2/ (15.03.2022) 83URL: https://www.sipri.org/ (29.03.2022) 84Stockholm International Peace Research Institute (Hg.). Annual Review 2021. März 2022. URL: https://sipri.org/sites/default/ﬁles/SIPRI%202021%20Annual%20Review.pdf (29.03.2022) 85Stockholm International Peace Research Institute (Hg.). Annual Review 2021. März 2022. URL: https://plus.tagesspiegel.de/gesellschaft/vom-friedensprojekt-zur-militarmacht-europa-rustet- auf-der-grosse-report-434080.html (29.03.2022) 86URL: https://plus.tagesspiegel.de/gesellschaft/vom-friedensprojekt-zur-militarmacht-europa- rustet-auf-der-grosse-report-434080.html (29.03.2022) 87 URL: https://www.sipri.org/media/press-release/2022/world-military-expenditure-passes-2- trillion-ﬁrst-time (26.04.2022) 88BTI TransformationsindexURL: https://bti-project.org/de/?&cb=00000 (10.05.2022) 89Riecke, Torsten: „Internationale Politik: Das Modell Putin bekommt Zulauf“. Handelsblatt, 23.02.2022. URL: https://www.handelsblatt.com/politik/international/autokratien-internationale- politik-das-modell-putin-bekommt-zulauf-/28091980.html (10.05.2022) 90Busch, Alexander, Sabine Gusbeth et al. „Die Welt danach: Wie der Ukraine-Krieg Macht und Wohlstand neu verteilt“. Handelsblatt, 06.05.2022. URL: https://www.handelsblatt.com/ politik/international/zukunft-der-globalisierung-die-welt-danach-wie-der-ukraine-krieg-macht- und-wohlstand-neu-verteilt/28308582.html (10.05.2022) 91Busch, Alexander, Sabine Gusbeth et al. „Die Welt danach: Wie der Ukraine-Krieg Macht und Wohlstand neu verteilt“. Handelsblatt, 06.05.2022. URL: https://www.handelsblatt.com/ politik/international/zukunft-der-globalisierung-die-welt-danach-wie-der-ukraine-krieg-macht- und-wohlstand-neu-verteilt/28308582.html (10.05.2022) 92Rogoff, Kenneth. „The Growing Threat of Global Recession“. Project Syndicate, 26.04.2022. https://www.project-syndicate.org/commentary/economic-recession-risk-in-china-united- URL: states-europe-by-kenneth-rogoff-2022-04?barrier=accesspaylog (10.05.2022) 93Busch, Alexander, Sabine Gusbeth et al. „Die Welt danach: Wie der Ukraine-Krieg Macht und Wohlstand neu verteilt“. Handelsblatt, 06.05.2022. URL: https://www.handelsblatt.com/ politik/international/zukunft-der-globalisierung-die-welt-danach-wie-der-ukraine-krieg-macht- und-wohlstand-neu-verteilt/28308582.html (10.05.2022) 94Wifo-Chef Gabriel Felbermayr im Interview mit der „Augsburger Allgemeinen“ am 31.03.2022. https://kurier.at/wirt..)schaft/felbermayr-ukraine-krieg-beendet-glorreiche-jahre-der- URL: globalisierung/401957701 (17.05.2022) 95Wirtschaftspolitischer Kurs von Staaten oder Staatenbündnissen, die sich von einer weiteren Weltmarktintegration distanzieren.URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Deglobalisierung (17.05.2022) 96„Totgesagte leben länger: Die Globalisierung steht an einem Wendepunkt“. Kurier, 31.03.2022. https://kurier.at/wirt..)schaft/felbermayr-ukraine-krieg-beendet-glorreiche-jahre-der- URL: globalisierung/401957701 (17.05.2022) 158

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97Herstellung für den unmittelbaren Verbrauch 98„Globalisierung: Ist der Zenit überschritten?“ DW, 03.04.2022. URL: https://www.dw.com/de/ globalisierung-ist-der-zenit-%C3%BCberschritten/a-61346209 (17.05.2022) 99„Globalisierung: Ist der Zenit überschritten?“ DW, 03.04.2022. URL: https://www.dw.com/de/ globalisierung-ist-der-zenit-%C3%BCberschritten/a-61346209 (17.05.2022) 100Rodrik, Dani: „A Better Globalization Might Rise from Hyper-Globalization’s Ashes“, Pro- ject https://www.project-syndicate.org/commentary/after- hyperglobalization-national-interests-open-economy-by-dani-rodrik-2022-05?barrier=accesspay (17.05.2022) 09.05.2022. URL: Syndicate: 101Der Club of Rome ist ein Zusammenschluss von Experten verschiedener Disziplinen aus mehr als 30 Ländern und wurde 1968 gegründet. Die gemeinnützige Organisation setzt sich für ei- ne nachhaltige Zukunft der Menschheit ein. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Club_of_Rome (31.05.2022) 102URL: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/club-of-rome-grenzen-des- wachstums-101.html (31.05.2022) 103Jacobs, Michael; Likay, Xhulia. „Have We Reached the Limits to Growth?“. Project Syndicate, 18.05.2022. URL: https://www.project-syndicate.org/commentary/club-of-rome-limits-to-growth- relevant-today-by-michael-jacobs-and-xhulia-likaj-2022-05?barrier=accesspay (31.05.2022) 104„Beyond Growth. Towards a New Economic Approach“, 11.09.2020. URL: https://www.oecd.org/ governance/beyond-growth-33a25ba3-en.htm (31.05.2022) 105“Azevedo, Joao Pedro; Goldemberg, Diana; et al. “Will Every Child Be Able to Read by 2030? Deﬁning Learning Poverty and Mapping the Dimensions of the Challenge.” 2021. Policy Research Working Paper;No. 9588. World Bank, Washington, DC. URL: https://openknowledge.worldbank. org/handle/10986/35300 (07.06.2022) 106URL: https://hdr.undp.org/en/content/human-development-index-hdi (07.06.2022) 107Patel, Dav. Sandefur, Justin. “A Rosetta Stone for Human Capital. Working Paper” 2020. URL: https://scholar.harvard.edu/devpatel/data-and-code (07.06.2022) 108Roser, Max. “Millions of children learn only very little. How can the world provide a better education to the next generation?” 01.06.2022. URL: https://ourworldindata.org/better-learning (17.05.2022) 109Fazzio, Eble, et al. “Large learning gains in pockets of extreme poverty: Experimental evi- dence from Guinea Bis-sau” 2021. Journal of Public Economics. Vol 199. URL: https://www. sciencedirect.com/science/arti.c.le/abs/pii/S0047272721000219?via%3Dihub (17.05.2022) 110Z.B.: Angrist, Noam. Evans, David K.. et al. “How to Improve Education Outcomes Most Efﬁcient- ly? A Compar-ison of 150 Interventions Using the New Learning-Adjusted Years of Schooling Me- tric“ 2020. Policy Research Working Paper; No. 9450. World Bank. URL: https://openknowledge. worldbank.org/handle/10986/34658 (17.05.2022) 111Frey, Eric. “Der zweite Kalte Krieg, die neue Weltordnung ist Geschichte“. Der Standard. 26.02.2022. URL: https://www.derstandard.de/story/2000133670860/der-zweite-kalte-krieg-die- 159

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neue-weltordnung-ist-geschichte (21.06.2022) 112Frey, Eric. “Der zweite Kalte Krieg, die neue Weltordnung ist Geschichte“. Der Standard. 26.02.2022. URL: https://www.derstandard.de/story/2000133670860/der-zweite-kalte-krieg-die- neue-weltordnung-ist-geschichte (21.06.2022) 113Stiglitz, Joseph E.. „How the US Could Lose the New Cold War”. Project-Syndicate. 17.06.2022. URL: https://www.project-syndicate.org/commentary/us-squandering-soft-power-appeal-in-cold- war-with-china-by-joseph-e-stiglitz-2022-06 (21.06.2022) 114URL: https://www.un.org/development/desa/pd/sites/www.un.org.development.desa.pd/ﬁles/ wpp2022_summary_of_results.pdf (12.07.2022) 115URL: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/weltbevoelkerung-139.html (12.07.2022) 116URL: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/weltbevoelkerung-139.html (12.07.2022) 117Bruttonationaleinkommen pro Kopf von 12.696 USD oder mehr im Jahr 2020 118URL: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0286_DE.html (02.08.2022) 119Hano, Johannes. „Multilateralismus Wie ein Zauberwort im Ukraine-Krieg verpufft“, 18.03.2022, ,URL: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/multilaterismus-aussenpolitik-deutschland-ukraine- krieg-russland-100.html (02.08.2022) 120URL: https://www.project-syndicate.org/commentary/g20-multilateralism-mobilizing-private- sector-investments-by-gelsomina-vigliotti-2022-07 (02.08.2022) 121Global Gateway ist eine Initiative der EU, mit deren Hilfe sie Investitionen in Höhe von bis zu 300 Mrd. Euro in Partnerländern weltweit für Klimaschutz, digitale Technologien, nachhaltigen Ver- kehr, Gesundheitssysteme, Bil-dung und Forschung mobilisieren will. Die Ende 2021 eingeführte Strategie ist inzwischen ein Teil der Partner-schaft für globale Infrastruktur und Investitionen, die von den G7 im Juni 2022 der Öffentlichkeit vorgestellt wur-de und für dieselben Zwecke 600 Mrd. US-Dollar aufbringen soll. 122URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Investitionsbank (02.08.2022) 123URL: https://www.auswaertiges-amt.de/blob/2460050/c43d710424e1f0c2d16e86a70f35ad02/ weissbuch-multilateralismus-data.pdf (02.08.2022) 124URL: https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/blog/weltwassertag-2022-zehn-fakten-ueber- wasser/172968 (09.08.2022) 125URL: https://www.handelsblatt.com/technik/forschung-innovation/insight-innovation-hitzewelle- diese-technologien-helfen-gegen-wasserknappheit/28575888.html (09.08.2022) 126Martin, Roger L. “Die Grenzen der Efﬁzienz“. 15.01.2021, Harvard Business Manager 3/2019. https://www.manager-magazin.de/harvard/strategie/warum-resilienz-fuer-unternehmen- URL: wichtiger-ist-als-efﬁzienz-a-00000000-0002-0001-0000-000162290733 (23.08.2022) 127URL: https://onlineshop.zukunftsinstitut.de/shop/zukunftskraft-resilienz/ (23.08.2022) 128URL: https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/resilienz-fuer-mensch-gesellschaft-wirtschaft-und- 160

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planet/ (23.08.2022) 129Roberts, Anthea; Sass, Jensen. “The New Resilience Paradigm”. 18.08.2022.URL: https://www.project-syndicate.org/commentary/productivism-offers-only-partial-response-to- neoliberal-decline-by-anthea-roberts-and-jensen-sass-2022-08 (23.08.2022) 130Rodrik, Dani. „The New Productivism Paradigm?”. 05.06.2022. URL: https://www.project- syndicate.org/commentary/new-productivism-economic-policy-paradigm-by-dani-rodrik-2022- 07?barrier=accesspay (23.08.2022) 131URL: https://de.wikipedia.org/wiki/4-Tage-Woche (27.09.2022) 132URL: https://de.wikipedia.org/wiki/4-Tage-Woche (27.09.2022) 133URL: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/sehnsucht-nach-freizeit-die-deutschen-deﬁnieren- sich-nicht-mehr-ueber-arbeit-18344379.html (26.09.2022) 134URL: https://www.handelsblatt.com/dpa/job-umfrage-lust-am-arbeiten-schwindet/28707398.html (26.09.2022) 135URL: https://www.derstandard.at/story/2000137088861/viertagewoche-der-grosse-sprung- nach-vorn (26.09.2022) 136URL: https://www.moment.at/story/das-weltweit-groesste-experiment-zur-4-tage-woche-laeuft- gut-wird-groesser-und-kommt-zu-uns (27.09.2022) 161